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| Aachen,

Exkursion nach Amsterdam

Begegnung und Gespräch mit der Zeitzeugin der Schoah Mia Corbey-van Praag

Zeitzeugin Mia Corbey-van Praag

Die Exkursionsgruppe gemeinsam mit Mia Corbey-van Praag

Die Exkursionsgruppe am Spiegeldenkmal im Wertheimpark

Am 29. Juni 2023 reiste eine Exkursionsgruppe der katho des Fachbereichs Sozialwesen (Abteilung Aachen) nach Amsterdam. Geleitet wurde die Exkursion von Prof. Dr. Rainer Krockauer. Die Gruppe von Studierenden und Lehrenden verbrachte einen bewegenden Tag mit Mia Corbey-van Praag, Zeitzeugin der Schoah. Nach einer Führung durch das jüdische Viertel und seiner Geschichte stand die Gelegenheit eines ausführlichen Gesprächs über die persönliche Geschichte der 1934 geborenen Zeitzeugin im Mittelpunkt der Exkursion. Ein lesenswertes, detailliertes Interview über die komplexe Lebensgeschichte von Mia Corbey van Praag können Sie unter diesem Link nachlesen. Die Studierenden der Exkursion wurden dazu eingeladen, einige Gedanken in Notizen auf dem Heimweg von Amsterdam nach Aachen zu verfassen.

Es ist ein frühsommerlicher Morgen am Wertheimpark im Amsterdam. Die Geräusche des belebten Viertels werden durch die kleine umrandende Steinmauer und Gartenanlage im Park ein wenig abgeschwächt. Auf einer der vielen Bänke wartet eine ältere Dame auf ihren Besuch. Mit einem freundlichen Lächeln begrüßt Mia Corbey-van Praag ihre Gäste aus Aachen. Sie spricht herzlich mit den Studierenden der Gruppe. Es interessiert sie sehr, für welche Menschen sich die Studierenden beruflich einsetzen, oder später einsetzen möchten. Schon mehrfach hat sie eine Exkursionsgruppe unter der Leitung von Prof. Krockauer begleitet und betont, sie freue sich auch heute wieder sehr auf den gemeinsamen Tag.

Parkanlage in ihrer Wichtigkeit als Ort des Gedenkens wahrnehmen

Während der wenigen Meter hinüber zum Spiegeldenkmal von Jan Wolkers spricht sie ihren Unmut über den aktuellen Zustand des Wertheimparks aus. Auf dem Spiegeldenkmal liegen Blätter und Staub vom Wind der letzten Tage. Sie lassen den gebrochenen Blick der Spiegel in den Himmel sowie die Brechung des Alltags im Parks durch das zunächst unscheinbare Denkmal kaum erkennbar werden. Es ist keine generelle Beschwerde einer älteren Dame, die sich gepflegtere Parkanlagen in ihrer Nachbarschaft wünscht. Der Gruppe erklärt sie, wie sie von der Gemeindeverwaltung erwarte, die Parkanlage auch in ihrer Wichtigkeit als Ort des Gedenkens ernst zu nehmen. Entweder sollen sie die Orte der Denkmäler pflegen, oder sie sollen sie wegmachen, führt sie fort. Später am Tag werde sie bei der Gemeinde anrufen, versichert sie.

Es sind kurze Sequenzen wie diese, die die Studierenden später reflektieren werden. In der Einladung, ihre Gedanken des Tages während der Heimreise aufzuschreiben, berichten sie über Erkenntnisse, die sich teilweise schwer bis gar nicht in Worte fassen lassen. Es sind Erfahrungen, für die Elie Wiesel eine Sphäre reflektierte, über die man sich bewusst sein sollte. Bewusst deshalb, weil für sie die Worte fehlen müssen. Man könne in sie nicht eintreten, ohne sich bewusst zu machen, dass nur diejenigen, die „dort“ waren, „wissen“ können. Man werde es nie wissen und dennoch müsse man es versuchen (Krockauer 2007, S. 41).

„Dass ich noch hier bin, bedeutet, dass ich nicht ermordet wurde."

In ihrem Zeitzeugenbericht am Ort des Amsterdamer Widerstandsmuseums antwortet Mia Corbey-van Praag ausführlich auf Rückfragen der Studierenden. Immer wieder wünscht sie sich mit „Mia“ angesprochen zu werden. „Ich bin Mia. Das ist gut. Das ist genug.“ Später fordert sie die Gruppe dazu auf, sich über die Bedeutung dieser Begegnung Gedanken zu machen. „Denken Sie genau“, fordert sie auf. Was bedeute es, dass sie sich heute erneut mit einer Gruppe deutscher Studierenden treffen würde? Nach einigen Momenten der Stille und verschiedenen verneinten Antworten, ergreift sie energisch das Wort. „Dass ich noch hier bin, bedeutet, dass ich nicht ermordet wurde. Das ist alles. Davon sollen Sie sich bewusst sein. Das ist alles, was ich Ihnen sagen möchte. Das ist auch für mich eine schwierige Sache“, fährt sie fort. Es sei „eigentlich ganz normal“. Auch dies werden die Studierenden später in ihren Notizen reflektieren. „Ich nehme mit, wie sensibel Sie für eine exakte Wortwahl und deren Bedeutung ist“, verfasst eine Studierende. In einer anderen Notiz wird vermerkt: „Ich muss meine Gedanken und Gefühle sammeln. Ich nehme den Humor und die Ernsthaftigkeit einer stolzen Großmutter mit und meine Dankbarkeit für die Weitergabe dieser Erfahrungen. Ich werde nie vergessen, wie sie gesagt hat, es sei ganz normal, dass sie lebt und es sei nicht normal, dass die anderen nicht mehr leben. Ich bin Mia, ich bin normal“.

In der Auseinandersetzung mit der Schoah treten auf gesellschaftlicher sowie auf persönlicher Ebene geschichtliche Ereignisse in das Licht der Aufmerksamkeit, die kein Thema der Vergangenheit sind. Sie sind Sphären des Alltags. Antisemitismus, Nationalsozialismus oder Kolonialismus wirken samt der strukturellen Verankerungen, Abwehrstrategien und Distanzierungsmustern bis in die Gegenwart hinein und werden fortgeschrieben (Niß 2023, S. 19). Die Schoah fand inmitten der modernen, rationalen Gesellschaft statt. Die Verbrechen wurden planerisch konzipiert und penibel durchgeführt, in einer hochentwickelten Zivilisation und in einem Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen. Daher, so kann es beispielsweise in den Analysen von Zygmunt Baumann nachvollzogen werden, muss die Schoah als Problem dieser gegenwärtigen Gesellschaft, Zivilisation und Kultur betrachtet werden (Bauman 2012). Gedenkstätten-Pädagogik und Zeitzeugenarbeit sind Möglichkeiten, sich dieser Gegenwärtigkeit der Vergangenheit für die Ausbildung und Bildungsarbeit Sozialer Arbeit anzunehmen.

 

Text: Johannes Mertens/Rainer Krockauer (für die Exkursionsgruppe)

 

Literaturangaben

Bauman, Z. (2012): Dialektik der Ordnung: die Moderne und der Holocaust. 3. Auflage. Hamburg: CEP Europäische Verlagsanstalt.

Krockauer, R. (2007): Erinnerungsarbeit in der Begegnung mit Zeitzeugen. In: Krockauer, R. (Hrsg.): „Zeugen der Zeugen“. Erfahrungen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Begleitheft zum Interview mit der Zeitzeugin Mirjam Ohringer. Aachen: Eigendruck.

Niß, S. (2023): Bildungsarbeit nach Auschwitz aus einer rassismuskritischen Perpektive. Problematiken und Möglichkeiten. In: Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik 53, S. 7–23.

https://www.verhalenoverdeoorlog.nl/nl/interviews/mia-corbey-van-praag

https://www.deterugkeer.nl/mia-van-praag

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