Interviews mit Studierenden
Die Studierenden in den vier Förderprogrammen der katho sind sehr heterogen und vielfältig wahrzunehmen, eine Reduzierung auf das Merkmal „Fluchterfahrung“ wäre verkürzt. Daher stellen wir acht von ihnen in ausführlichen Interviews vor.
Ahmad Sabsabe (29 Jahre) studiert seit dem Wintersemester 2018/2019 im Bachelor Soziale Arbeit an der katho am Standort Köln. Er kommt aus Syrien und lebt seit 2015 in Deutschland. 2021 bekam er die deutsche Staatsangehörigkeit. Ahmad engagiert sich u.a. im Fachsbereichsrat, im Senat und in der AG ADD. Außerdem arbeitet er aktiv im Projekt „Ready, steady, go“ mit und erhält ein Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung. 2022 wurde er mit dem DAAD-Preis für hervorragende Leistungen und sein vielfältiges gesellschaftliches Engagement ausgezeichnet.
Jasmin Sonnier: Bitte berichten Sie mir von Ihrem Bildungsweg bis zum Studienbeginn.
Ahmad Sabsabe: In Syrien habe ich meine Schule besucht. Ich habe dann auch Ende 2010 mein Abitur abgeschlossen und mich dann an der Uni eingeschrieben. Aber 2011 ging die Revolution los und dann war es mir nicht wichtig, zu studieren. Obwohl ich, wenn ich es gewollt hätte, vielleicht hätte machen können. Aber das war für mich unvorstellbar, einfach nichts zu tun und zur Uni zu fahren und so das Studentenleben zu genießen. Deswegen wollte ich oder beziehungsweise konnte ich auch nicht wirklich studieren, weil ich auch politisch aktiv war. Und mich somit für die Revolution eingesetzt habe. Ich habe die Uni vergessen, einfach, weil es für mich nicht ging, gleichzeitig politisch aktiv zu sein und zur Uni zu gehen. Mir waren die Gesellschaft und die Entwicklungen viel wichtiger als mein Bildungsweg. Und dann, zwei, drei Jahre später, bin ich im Libanon gelandet und hatte auch die Möglichkeit, zu studieren. Ich habe mich eingeschrieben und sozusagen ein halbes Stipendium bekommen. Aber da kam mein Bruder schwer verletzt aus Syrien und dann musste ich das Studium abbrechen, um ihn zu begleiten, zu unterstützen und bei ihm im Krankenhaus zu sein. Deswegen habe ich nicht studiert, sondern sozusagen nur als Sozialarbeiter gearbeitet, für meinen Bruder und andere Verletzte. Und 2015 bin ich dann in Deutschland gelandet und habe erst einmal auf meinen Sprachkurs gewartet. Dann habe ich die Sprache bis "C1" gelernt und 2018 an der katho angefangen.
J.S.: Und darf ich Sie fragen, aus welchem Grund Sie aus Syrien fliehen mussten?
A.S.: Ich bin wegen politischer Verfolgung aus Syrien geflohen und schließlich wegen großen Drohungen aus dem Libanon. Also das System im Libanon und Syrien arbeitet sozusagen zusammen und da ich so aktiv war, habe ich ganz viele Drohungen bekommen. Und mein Bruder konnte auch nicht mehr im Libanon behandelt werden. Deswegen war dies für mich und für die Familie dann auch die Zeit, noch mal fliehen zu müssen.
J.S.: Warum haben Sie sich schließlich in Deutschland für das Studium der Sozialen Arbeit entschieden?
A.S.: Ich hatte es ja sozusagen schon ausgeübt, bevor ich es studiert habe. Ich war ja seit 2011 unterwegs und in Syrien habe ich eine ähnliche Sozialarbeit wie hier geleistet, obwohl ich dies als Profession gar nicht kannte. Also, das Studienfach an sich haben wir nicht. Im Libanon habe ich dann meinen Bruder und viele andere unterstützt. Und das war so eine Art Case-Management-Arbeit, viel an den Landesgrenzen und in Geflüchtetenheimen und so. Und für mich war auch die Soziale Arbeit hier ein Weg, Zugang zu Menschen zu bekommen, weil es hier extra schwierig ist, wirklich Zugänge zu Menschen zu haben und langfristige, starke Beziehungen aufzubauen. Und mit diesem Studium dachte ich, ich verstehe dann die Menschen besser und auch die Strukturen, die die Menschen geprägt haben. Deswegen fiel mir auch die Nähe zur Gesellschaft und zu Menschen durch die Soziale Arbeit leichter. Noch ein weiterer Grund war sozusagen das Open End nach dem Studium. Die Praxisfelder der Sozialen Arbeit sind so breit gefächert, dass man nach dem Studium in der Schule, im Amt oder in anderen vielfältigen Bereichen arbeiten kann und die Flexibilität behält. Das hat mich auch angesprochen, weil ich damals nicht sicher war, ob ich damit am Ende glücklich bin und das Leben führe, das ich führen will.
Und dann kam die katho ins Spiel. Ich habe meinen Sprachkurs "B2" in der RWTH Aachen gemacht und das war für mich viel zu anonym und viel zu groß. Und dann dachte ich: Nein, wenn ich studiere, dann nicht in einer großen Uni. Da will ich nicht nur eine Matrikelnummer sein! Und dann habe ich die katho gesehen und musste mich erst mal zwischen Aachen und Köln entscheiden. Für mich fußt dieses Angebot einfach auf Gerechtigkeit und gleichen Zugängen. Man besitzt ja unterschiedliche Ressourcen und aus meiner Sicht dürfen nicht alle gleichbehandelt werden. Und genau deswegen bin ich an der katho und bei der Sozialen Arbeit gelandet.
J.S.: Auf welche Weise finanzieren Sie sich während des Studiums?
A.S.: Ich bin Stipendiat bei der Heinrich-Böll-Stiftung. Und wenn ich an Heinrich Böll denke, dann denke ich auch an das Einmischen. Das war auch sein Wort. Und das finde ich einfach großartig. Da ich mich gerne einmische und nicht nur zuschaue. Also ich habe BAföG zu Beginn des Studiums erhalten und dann wurde ich auf Stipendien aufmerksam gemacht und ich dachte: Ist auch eine tolle Sache und es ist auch ein neuer Kampf, das so anzugehen. Und dann, ab dem vierten Semester wurde ich gefördert. Das ermöglicht mir auf jeden Fall auch viel Engagement und nicht nur finanzielle Unterstützung. Daher bin ich dankbar, dass ich das Stipendium erhalte. Es motiviert mich auf jeden Fall, noch einen Masterstudiengang draufzusetzen. Ansonsten wird es viel schwieriger, das zu machen. Zusätzlich habe ich für wenige Monate ein Studienabschlussstipendium des DAADs erhalten.
J.S.: Wie haben Sie die Studieneingangsphase, also den Beginn des Studiums wahrgenommen? Wie haben Sie die Unterstützung durch das Projekt empfunden?
A.S.: Dieser Vorbereitungskurs und die Unterstützungsangebote waren für mich erstmal als Orientierung ganz gut. Nicht direkt bei der Ersti-Woche dazustehen und nichts zu wissen, sondern so, dass man schon mal da war und sich einfach mit dem Thema auseinandergesetzt hat, schon Kommiliton_innen kennengelernt hat. Das hat mehr Sicherheit gegeben. Die Unterstützungsangebote waren auch hilfreich, weil für mich dieses System des Studierens schon ewig lang her war. So 2011 bis 2018 – dazwischen ist ganz viel passiert. Ich habe mich ganz anders entwickelt und ich habe ganz andere Wege eingeschlagen als die, die ich gedacht habe. Und die Angebote haben dazu beigetragen, dass ich so die Methodik und das System besser verstanden habe. Das hat geholfen, die Leistungen zu erbringen. Zudem die Gruppe – dass man zusammen und nicht alleine ist, dass Andere auch ähnliche Sorgen haben. Dieses Gruppengefühl war für mich immer wichtig, ich hab mich nicht alleine gefühlt. Aber auch das offene Ohr von euch, also vom Projekt, dass man hier vieles ansprechen konnte. Das war sehr hilfreich.
J.S.: Wie haben Sie die schon angesprochene Gruppenzugehörigkeit zum Projekt „Ready, steady, go – social work for refugees“ empfunden?
A.S.: Ja, also ich würde zwischen zwei Wahrnehmungen unterscheiden: Also die innere Wahrnehmung von der Gruppe selbst und dann auch von außen, wie man gesehen wird. Das sind für mich zwei unterschiedliche. Im Inneren war das für mich gar keine „Verbesonderung“, weil es für mich selbstverständlich war. Wenn man von Gerechtigkeit und gleichberechtigter Teilhabe redet, dann muss man auch andere Zugänge schaffen, die einfach zu den Menschen passen. Ich muss auch sagen, ganz am Anfang habe ich mich mehr auf mich konzentriert, um wirklich anzukommen und um das durchzuziehen, Fuß zu fassen und dann sozusagen den Blick zu öffnen. Ich kann diesen Gedanken von „Sonderbehandlung“ irgendwo nachvollziehen, aber nicht im Ganzen, weil wie schon gesagt, ich die Rede von Gleichheit hier nicht für sinnvoll halte. Wenn wir gleichgestellt werden wie alle Studierenden, dann verlieren wir glaube ich viele Chancen. Von daher gab es manchmal auch Situationen, in denen man sich erklären muss, warum man studiert, was das Projekt ist und so weiter. Es kommt darauf an, wer gefragt hat und wie er bzw. sie gefragt hat. Manchmal haben auch Studierende deutscher Herkunft das Projekt als „Verbesonderung“ angesehen. Und hier dachte ich, da hätte die Hochschule anders reagieren, mehr erklären sollen. Aber wir waren ja auch alle am Anfang des Studiums. Und diese ressourcenorientierte Arbeit und solche Ansätze haben sowohl wir als auch Mitstudierende nicht so begriffen, sag ich jetzt mal. Und ich würde auch sagen, manche, die dies kritisiert haben, sehen es vielleicht heute anders. Ich werde manchmal als weiß gelesen, und bin dadurch „etwas“ privilegiert, von daher musste ich vielleicht nicht so viel erklären wie andere Studierende des Projekts. Also ich empfand es nicht als „Verbesonderung“ aus der inneren Sicht. Wie gesagt, es war für mich selbstverständlich, dass in der Sozialen Arbeit und mit Sozialer Arbeit für Gesprächigkeit gehandelt wird.
J.S.: Sie sind aktuell im 7. Semester des Studiums, welche Inhalte des Studiums interessieren Sie besonders?
A.S.: Meine Interessen waren von Anfang an ganz klar: ich habe mich für migrationsbezogene Inhalte interessiert und habe mich mit Migration, Diversität und jetzt mit Rassismuskritik auseinandergesetzt. Diese Themen haben mich angesprochen und ich habe mich auch sozusagen „drinnen“ gefühlt aufgrund meiner international gesammelten Erfahrungen in dem Bereich. Es ist klar, es gab auch andere interessante Themen, aber sie hatten nicht genügend Anreiz für mich. Meine Interessen, das kann ich ganz klar sagen, wurden auch beeinflusst von den Menschen und wer doziert. Das hat für mich auch eine ganz große Rolle gespielt, weil ich da wusste, dass ich auf Augenhöhe behandelt werde. Und deswegen hatten die Themen – aber auch die Menschen, die Themen gelehrt haben – einen großen Einfluss genommen auf die Wahl meiner Seminare.
J.S.: Wie engagieren Sie sich über das Studium hinaus an unserer Hochschule?
A.S.: Also ganz am Anfang war ich ein bisschen im Projekt aktiv mit Mitstudierenden und habe nicht viel an die Strukturen der Hochschule gedacht. Denn ich wollte erst mal ankommen und einfach mehr verstehen, um dann mitmachen zu können. Der große Auslöser war dann schließlich der Chatvorfall vor einem Jahr, woraufhin ich gedacht habe: Nee! Also klar, man studiert zu kurz, aber es ist auch unvorstellbar einfach weiterzugehen, ohne sich einzumischen. Und für mich war sich einmischen immer die effektivste Sache, die ich jemals erlebt habe. Wenn man Dinge nicht nur kritisiert, sondern angeht und mitmacht. Weil Kritik nur zu äußern, ist eine halbe Sache und ich mag keine halben Sachen. Von daher habe ich mich entschlossen, mich einzumischen, laut zu sein, mich auszutauschen und einfach zu versuchen mit zu verändern und mit zu gestalten und nicht nur Empfänger zu sein, sondern auch Gestalter. Wie ich eben zu Beginn schon von Gleichberechtigung und auch Gerechtigkeit gesprochen habe – das ist für mich der Weg. Also, wenn ich weiß, dass ich vielleicht andere Ressourcen mitbringe oder mir manche Zugänge einfach schwerer gemacht werden, dann muss ich auch dagegen angehen und nicht nur sagen: Hey, würdest du das für mich machen? Kann ja manchmal helfen, aber sehr selten. Von daher: einmischen! Und das tut gut. Es ist aber auch manchmal sehr verzweifelnd, weil man auf einmal in festgefahrenen Strukturen steckt und nicht weiterkommt. Aber wenn man diese Strukturen einfach so belässt wie sie sind, lässt dies auch keinen Freiraum zu für neue Ideen, für ein Umdenken oder für eine andere Umzusetzung. Diese Strukturen, die sind geprägt von rassistischem Denken und Diskriminierung. Man sitzt ja sozusagen drin und man möchte dagegen angehen, aber wird gleichzeitig von diesen Strukturen fertiggemacht. Das kostet ganz viel Kraft, aber ist auf jeden Fall eine große Bereicherung.
J.S.: Wie genau gestalten Sie den Hochschulalltag mit?
A.S.: Ich bin im Senat, im Fachbereichsrat Sozialwesen, im Gesamtfachbereichsrat der katho, in der AG ADD und im QVM-Ausschuss. Mir ist es wichtig, dort Mitglied zu sein und dort mitzugestalten. Denn wenn man sich während der Seminare und Vorlesungen äußert, leistet man zwar einen Beitrag leistet, aber man kann dort nicht wirklich viel erreichen. Für mich ist es sozusagen dieser Tisch, an dem Entscheidungen getroffen werden, das Wichtigste. Denn diese Entscheidungen beeinflussen ja wiederum die Inhalte und wer da doziert und was doziert wird und wie auch Strukturen gebildet werden. Ich dachte mir, jetzt ist mal Zeit noch tiefer reinzugehen und direkt mit Dekanin, Prodekan und anderen Professor_innen am Tisch zu sitzen und diese studentische Sicht mitzubringen. Von daher habe ich mich zur Wahl aufstellen lassen und war der meistgewählte Student der katho. Das hat mich auf jeden Fall glücklich gemacht, aber auch gleichzeitig habe ich ganz viel Verantwortung auf meinen Schultern gespürt. Und ja, ich mache da mit, weil ich mich einmischen wollte und dies nicht nur als Ahmad, sondern auch als Student und auch als Vertreter von hoffentlich vielen anderen Studierenden. Weil wenn wir nicht laut sind, dann werden wir einfach nicht gehört. Wenn wir uns nicht mitteilen und sagen, was uns beschäftigt und warum wir es so sehen, dann wird vielleicht in eine ganz andere Richtung entschieden. Ich glaube, was die Hochschule oft vergisst: Wenn wir nicht da wären, gäbe es keine Hochschule. Man hört da in den Kreisen auch Sätze, bei denen man denkt: Liebe Professor_innen, ihr seid da, weil wir da sind. Da fällt mir ein Satz ein, der einen anderen Mitstudenten meinte: Er habe hier nichts zu suchen! Und ich dachte: Entschuldigung, wir Studierende, wir haben hier viel zu suchen, nicht nur die Professor_innen. Und deswegen bin ich gerne in diesen Kreisen und versuche einfach laut zu sein und eine andere Sicht auf die Sache zu bringen. Was wiederum hoffentlich für meine Mitstudierenden das Studium leichter, entspannter und besser macht.
Und meine Tätigkeit in der Leitung des Unterstützungskurses für Studierende im dritten Semester im Projekt „Ready, steady, go“ sehe ich als eine Möglichkeit, mehr Erfahrungen zu sammeln und näher an den anderen Studierenden zu sein und weil ich weiß, wie es sich anfühlt, einfach gegenüber zu sitzen. Ich dachte, vielleicht leiste ich dann auch einen Beitrag, dass Studierende in früheren Semestern, von meiner Erfahrung profitieren und dass ich sie sozusagen während des Studiums begleiten kann. Das macht schon Spaß. Wer weiß, vielleicht stehe ich auch irgendwann als ein Dozent vor Studierenden. Die nächste Erfahrung steht auch an: Jetzt im Januar bin ich Referent für die Ersti-Fahrt und gebe einen Workshop. Und vielleicht ist die Lehre auch etwas für mich, aber das lässt sich noch klären.
J.S.: Was wünschst du dir mit Blick in die Zukunft?
A.S.: Also was die Hochschule angeht, wünsche ich mir auf jeden Fall viel mehr Transparenz, was und wie entschieden wird und warum und auf welcher Grundlage. Weil ich auch aus Sicht eines Studenten sagen kann, dass diese Hintergründe für uns als Studierende gar nicht klar sind. Und deswegen wünsche ich mir erst mal viel mehr Transparenz. Ich wünsche mir auch mehr Vielfalt, also im Studium und unter Studierenden wird viel über Vielfalt geredet, aber sie wird nicht gelebt. Und in den höheren Strukturen, haben sie aus meiner Sicht noch nicht angefangen über Vielfalt zu reden. Die Studierenden sind ein bisschen vorangekommen, aber die Strukturen gar nicht. Und dann wünsche ich mir einfach von der Hochschule und auch von den Strukturen ein Umdenken und ein rassismus- und diskriminierungskritisches Denken. Ich weiß, das Thema ist ein unangenehmes Thema, weil keiner würde sich in der Täterrolle sehen. Ich sage auch nicht, dass das alle Täter sind. Täter sind wir aus meiner Sicht dann, wenn wir uns damit nicht auseinandersetzen wollen. Die Hochschule trägt für mich einfach eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, weil wenn Menschen da fertig sind, dann sind die auch in der Gesellschaft aktiv und unterwegs und leisten ihre Beiträge. Und, wenn die Strukturen einfach diesbezüglich gar nicht kritisch sind, dann kann ich auch von Studierenden nicht erwarten, dass sie kritisch sind. Obwohl, Gott sei Dank, manche auch schon sehr kritisch sind. Das macht mir Mut und lässt erkennen, dass es einfach das Thema der Sozialen Arbeit ist, aber auch das Thema der Gesellschaft. Ich wünsche mir auch von Mitstudierenden mehr Offenheit und mehr Sensibilität. Ich sage es jetzt nicht nur in Bezug auf „Ready, steady, go“. Ich meine es ganz allgemein, weil in der Sozialen Arbeit trifft man auf alle Menschen. Ich weiß, drei Jahre sind eine kurze Zeit an der Hochschule und das Leben geht weiter. Aber, wenn man die Wichtigkeit der Hochschule einfach erkennt und anerkennt, dann sieht man, dass von dieser Hochschule Generationen in die Gesellschaft geschickt werden, die entweder ganz viel gut, aber auch kaputt machen können. Von daher: mehr Sich-einmischen und versuchen nicht immer nur Kritik zu äußern, sondern auch was Neues umzusetzen. Das, was die Hochschule betreibt, ist auch Politik. Und, wenn wir keine solidarische, gerechte und demokratische Politik ausüben, dann schießen wir uns in unser eigenes Bein. Wenn ich jetzt die Gesellschaft anschaue, die Zeit läuft schnell und die Gesellschaft entwickelt sich so rasant schnell. Und wenn wir nicht mitgehen können, dann scheitern wir. Die Corona-Pandemie ist auch ein Beispiel dafür, dass Änderungen und gesellschaftliche Realitäten sich so schnell ändern können und man selbst nicht mehr mitkommt. Da habe ich die Sorge, dass Politik an sich, aber auch Hochschulpolitik, auf einmal nicht mehr mitkommt. Das wäre ein großer Verlust.
J.S.: Wo genau stehen Sie aktuell im Studium und was sind Ihre Zukunftspläne nach dem Studium?
A.S.: Ich schreibe aktuell meine ISPS-Arbeit. Da konzipiere ich einen Workshop über Alltagsrassismus, welchen ich dann in der Ersti-Fahrt durchführen werde, wenn diese stattfindet. Ich schreibe über Rassismus und Alltagsrassismus in meiner ISPS-Arbeit und das Thema der Bachelor-Thesis steht noch nicht fest, aber sie wird auch in Richtung Migration, Integration und Rassismuskritik gehen. Und ich plane das Studium im Juni 2022 abzuschließen. Also bis August bin ich dann noch an der Hochschule eingeschrieben. Und wie es weitergeht, das steht noch offen. Also einen Masterstudiengang will ich auf jeden Fall studieren. Wo, in welcher Richtung, da bin ich noch nicht sicher. Meine Zukunftspläne: Ich sehe mich wie gesagt in der Politik. Ich bin aber auch dankbar, die sozialarbeiterische Brille mitzunehmen und vielleicht als Dozent wieder an der katho oder aber auch woanders tätig zu sein.
J.S.: Möchten Sie diesem Gespräch noch etwas hinzufügen?
A.S.: Ja, ich möchte gerne anregen, dass die Hochschule über den Arbeitstitel dieser Broschüre „5 Jahre Geflüchtetenprojekte an der katho“ nachdenken sollte. Es ist klar, als ich angefangen habe zu studieren, war ich noch recht neu in diesem Land, aber heute bin ich auch Staatsbürger dieses Landes. Und ich bin Ahmad und individuell. Und, dass einfach diese allgemein breit gefächerten, verallgemeinernden Begriffe heute, aus meiner Sicht, nichts mehr zu suchen haben. Weil wir sind viel weiter und die Gesellschaft ist auch viel weiter. Und deswegen erwarte ich auch von einer Hochschule, die Soziale Arbeit anbietet, dass sie auch über solche Perspektiven, Gedanken und Wörter einfach nachdenkt. Mir ist es dann wichtig, die Menschen einfach als Individuum wahrzunehmen und einfach weg von diesen Verallgemeinerungen zu gehen, weil wir auch nicht nur gesellschaftlich, sondern auch wissenschaftlich viel mehr wissen als 2015 und 2010 und so weiter. Von daher erwarte ich auch von der Hochschule, dass sie sich kritisch damit auseinandersetzt.
J.S.: Haben Sie einen konkreten Vorschlag? Wie könnte ein Titel für eine solche Broschüre lauten?
A.S.: Ich mache mir darüber Gedanken. Im Endeffekt, also was hat meine Flucht damit zu tun? Was hat es damit zu tun, dass ich heute dastehe? Klar, es hat mich geprägt, aber es hat die Hochschule nicht geprägt. Ich bin mehr als das, auf das die Hochschule mich mit diesem Merkmal oder diesem Ereignis in meinem Leben reduziert. Ich bin ja auch viel mehr und alle anderen sind auch viel mehr als die „Fluchterfahrung“ oder ein „Einser-Abi“ oder was auch immer man im Leben geschafft hat oder machen musste. Wie alt ist die katho jetzt? 50 Jahre glaube ich feiert sie. 50 Jahre katho heißt das und nicht „deutsche Soziale Arbeit“ oder was auch immer. Keine Ahnung - fünf Jahre Ready, steady, go oder fünf Jahre Vielfalt - aber ist es eine gelebte Vielfalt? Das ist dann die andere Frage.
J.S.: Die besondere Herausforderung ist doch eigentlich, weniger die Tatsache mit Fluchterfahrung zu studieren, als in einer Fremdsprache zu studieren. Wie stehen Sie dazu?
A.S.: Auf jeden Fall, es hat mehr Gewicht. Aber auch kein hundertprozentiges Gewicht, da viele es geschafft haben und schaffen werden das Studium abzuschließen. Und ich habe bis jetzt nicht erfahren, dass jemand wegen der Sprache das Studium abgebrochen hat. Es ist eine Herausforderung, aber es ist auf jeden Fall mehr der Schwerpunkt als die Fluchterfahrung an sich. Also, was weiß die katho von meiner Fluchterfahrung? So, ich saß in meinem Fall im Flugzeug und bin hierher geflogen. Wenn es jetzt rein um diese Flucht geht, die ewig hier ist, das sind sechs Jahre. Ich stehe jetzt ganz woanders. Ein konkreter Titel fällt mir nicht ein, aber es klingt für mich legitimer, wenn ich sage: „Fünf Jahre Ready, steady, go“ und „50 Jahre katho“, oder? Weil das Projekt steht ja im Fokus und nicht die Menschen. Dieses Projekt hat Menschen geholfen und unterstützt, kein Thema. Aber die katho kann sich auch leisten, ohne das Projekt zusätzliche Studienplätze und Unterstützung anzubieten. Und auch eine Koordinatorenstelle zu zahlen und so weiter. Klar ist das mit Kosten verbunden, aber auch mit großem Gewinn, sowohl für die Hochschule als auch für die Gesellschaft.
Als besondere Herausforderungen im Studium sehe ich nicht die Fluchterfahrung, sondern fehlende soziale Kontakte und die Lerngruppe. Und auch die Sprache Deutsch als Zweitsprache. Zum Beispiel habe ich mein Studium ohne eine einzige Lerngruppe durchgezogen, aber vielleicht ist das nicht für alle machbar. Sehr viele Studierende haben selbstorganisierte Lerngruppen, in denen man sich trifft, austauscht, zusammen denkt, Unterlagen austauscht und so weiter. Das hatte ich nicht. Ich habe die Entscheidung an keiner Lerngruppe teilzuhaben nicht getroffen. Es wurde entschieden. Also, ich habe es versucht, aber ich bin nirgendwo angekommen. Dann entschied ich mich das Studium allein durchzuziehen. Ein Grund, warum ich keine Lerngruppe hatte, könnte darin liegen, dass ich einen anderen Förderbedarf in der Sprache hatte. Ich verstehe viel mehr als ich schreiben kann und eine Gruppe ist eine Gruppe, die alle zusammen agieren und aufeinander aufpassen. Ich habe mich mit vielen Inhalten wirklich auseinandergesetzt und mir war es wichtig, nicht nur die Prüfung abzuhaken, sondern einfach zu verstehen, die Studieninhalte mit meiner Praxis und meinen Lebenserfahrungen zu verknüpfen. Vielleicht lag es auch daran, dass ich vielleicht ein bisschen älter bin. Andere Gründe kann ich auch nicht ausschließen. Von daher muss auch das Soziale an der Hochschule mehr gefördert werden und vor allem jetzt während der Corona-Pandemie besonders. Das hat man gesehen, wie jetzt die Erstis, die den Chatvorfall erlebt haben, dass große Unsicherheiten bestehen und dass der Zusammenhalt nicht stark ist.
Aly Badara Touré ist 30 Jahre alt und hat in Guinea bereits einen Bachelor in Internationale Beziehungen abgeschlossen. Seit 2016 studiert er im Bachelorstudiengang Soziale Arbeit an der katho in Köln und arbeitet in einer interkulturellen Wohngruppe der Jugendhilfe.
Jasmin Sonnier: Im Jahr 2016 haben Sie das Studium Soziale Arbeit an der katho begonnen. Erzählen Sie mir bitte von Ihrem Bildungsweg bis zum Studienbeginn.
Aly Badara Touré: Vor dem Studium habe ich in Guinea studiert, ich habe einen Bachelor of Arts in internationalen Beziehungen. Anschließend habe ich etwa sechs Monate in der guineischen Botschaft in Kairo in Ägypten gearbeitet und danach habe ich mich wieder in Guinea aufgehalten. 2013 bin ich nach Deutschland geflohen, im Juni habe ich mit den Sprachkursen A1 und B1 angefangen. Danach habe ich bis zum Studienbeginn ehrenamtlich im sozialen Bereich gearbeitet.
J.S.: Darf ich Sie fragen, aus welchem Grund Sie aus Guinea fliehen mussten?
A.B.T.: Ich war politisch engagiert. Ich war sehr, sehr aktiv und habe mit einer Gruppe von Menschen für Gerechtigkeit gekämpft, mich für die Demokratie eingesetzt. Unser Ziel war es, dass auch junge studierte Menschen Teil der Regierung von Guinea werden können. Wir leben in einer Diktatur, obwohl es ein demokratisches Land ist. Ein weiteres Ziel war es, dass Bildung sehr viel ernster genommen wird, denn die Bildungsquote ist sehr niedrig. Laut Regierung war ich dann eine Gefahr für das System, deswegen musste ich das Land verlassen.
J.S.: Aus welchen Gründen haben Sie sich entschieden, in Deutschland an der katho Soziale Arbeit zu studieren?
A.B.T.: Ich hatte versucht, mich an der Uni zu Köln für den Master Internationale Beziehungen einzuschreiben, aber das hat leider nicht geklappt. Zu der Zeit arbeitete ich ehrenamtlich bei der Caritas für die Aktion „Neue Nachbarn“. Über meinen damaligen Chef erfuhr ich von der Ausschreibung des „Ready, steady, go“-Projekts der katho. Und da mir die ehrenamtliche Arbeit mit Geflüchteten sehr viel Spaß machte, entschied ich mich zu einer Bewerbung.
J.S.: Welche Studieninhalte interessierten Sie bisher besonders?
A.B.T.: Das Seminar mit dem Thema Religionssensibilität in der Migrationsgesellschaft bei Prof. Dr. Freise fand ich wirklich gut. Jugendhilfe und Migration beziehungsweise Flucht sind für mich besonders interessante Themen, in diesem Bereich arbeite ich ja auch aktuell.
J.S.: Da Sie in Guinea schon ein Studium erfolgreich absolviert haben und nun im zehnten Semester an unserer Hochschule studieren: Welche Unterschiede sehen Sie im Vergleich der Studienalltage?
A.B.T.: In Guinea an der Uni zu studieren ist etwas völlig anderes. Hier an der katho hat man eine freiere Wahl, ich kann entscheiden, in welchem Semester ich welche Veranstaltungen besuche. In Guinea war das nicht möglich. Dort hat man inhaltliche Schwerpunkte und Themen vorgesetzt bekommen und diese musste ich besuchen. Auch hatte ich keine Freiheit, wie lange ich studieren möchte. Zudem war ich in Guinea in einer privaten Uni eingeschrieben, die sehr viel Geld kostete. Auch das erhöhte den Druck, in sechs Semestern das Studium abzuschließen. Von der Struktur her ist das Studium in Guinea ähnlich aufgebaut, man besucht das Semester über Veranstaltungen und schreibt dann Klausuren.
J.S.: Bitte erzählen Sie mir von dem Umstand, dass Sie kurz nach Studienbeginn an unserer Hochschule exmatrikuliert werden mussten.
A.B.T.: Ich habe 2016 angefangen zu studieren und kurz vor der Klausurphase im Februar 2017 habe ich dann eine E-Mail aus dem Dekanat erhalten: Die Hochschule habe einen Brief von der Ausländerbehörde erhalten, weil ich damals in meiner Aufenthaltsgestattung ein Studienverbot eingetragen hatte. Ich musste also exmatrikuliert werden und Kontakt mit der Ausländerbehörde aufnehmen. Das Studienverbot war in meiner Aufenthaltsgestattung eingetragen, weil ein paar Unterlagen in meinem Asylantrag fehlten. Diese sollte ich in meiner Heimat besorgen, was nicht einfach war, weil ich ja wie gesagt geflohen bin. Meine Mutter hat dann ganz stark dafür gekämpft, dass mir die Unterlagen ausgehändigt wurden. Mich hat die Situation, mein Studium deshalb abbrechen zu müssen, sehr geschockt. Ich habe sehr lange gebraucht, die Unterlagen zu bekommen und hatte schon die Hoffnung verloren. Ich hätte keine Kraft mehr gehabt, dass alles nochmal zu versuchen. In der katho hatte ich zu dieser Zeit Kontakt zu Personen, die mich sehr gepusht und mir Kraft gegeben haben, es weiter zu versuchen. Sie haben für mich eine Petition gestartet, sie bei der Ausländerbehörde vorgelegt und auch Schreiben von einigen Dozenten gesammelt. Schließlich konnte das Studienverbot aus meiner Aufenthaltsgestattung gelöscht werden. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich das Sommersemester 2017 komplett verpasst. Im Wintersemester 2017/18 begann dann der neue Jahrgang im Projekt, und weil viele Veranstaltungen ja nur jährlich beginnen, verlor ich dadurch viel Zeit.
J.S.: Nun sind Sie schon im zehnten Semester und schreiben aktuell Ihre Bachelorarbeit – über welches Thema?
A.B.T.: Ich schreibe über die politische Verfolgung als Fluchtursache von jungen Erwachsenen aus Guinea und die Fragestellung ist: „Welche Konsequenzen lassen sich aus dem Erfahrungswissen junger politischer verfolgter Menschen aus Guinea für die Soziale Arbeit in Deutschland ableiten?“
J.S.: Andere Studierende kritisieren hin und wieder, dass sie in der Hochschule an dem Projekt teilnehmen und als besondere Gruppe wahrgenommen werden – als Studierende mit Fluchterfahrung. Wie geht es Ihnen damit?
A.B.T.: Ich habe mich wohlgefühlt und das war für mich ganz normal. Ich habe es während dieser Zeit überhaupt nicht erlebt, dass ich als Person zu der Gruppe gehört habe. Ich habe mich wie ein normaler Student an der katho gefühlt.
J.S.: Vor ungefähr einem Jahr gab es an der Hochschule in einer Chatgruppe eine rassistische, antisemitische und diskriminierende Konversation – wie haben Sie die Situation wahrgenommen?
A.B.T.: Das war für mich schockierend, sowas gelesen zu haben. Ich habe mir Gedanken gemacht und mir auch die Frage gestellt, warum diese Studierende zur katho gehören. Für mich ist die katho ein Ort, an dem alle herzlich willkommen sind. Wir sind alle gleich, egal ob man beispielsweise schwarz ist oder eine Behinderung hat.
J.S.: Wie finanzieren Sie sich während des Studiums?
A.B.T.: Leider habe ich keine BAföG-Leistungen erhalten, deswegen muss ich in Teilzeit neben dem Studium arbeiten. Das ist sehr anstrengend. Aber auf der anderen Seite ist es auch gut so. Dann muss ich nach dem Studium kein Darlehen zurückzahlen und ich konnte schon Erfahrungen in der Praxis sammeln. Ich arbeite in einer interkulturellen Wohngemeinschaft des Deutschen Roten Kreuzes in Mechernich. Die Arbeit macht mir sehr viel Spaß. Mir begegnen dort viele unterschiedliche Menschen beispielweise aus Guinea, Nigeria und auch deutsche Jugendliche. Außerdem habe ich für wenige Monate zusätzlich ein Studienabschlussstipendium des DAAD erhalten.
J.S.: Berichten Sie mir noch von Ihren Zukunftsplänen: Was haben Sie nach Ihrem Studienabschluss vor?
A.B.T.: Ich möchte gerne weiterhin in der Jugendhilfe tätig sein und dort Erfahrungen sammeln. Dann plane ich, mir eine Stelle zum Thema Antidiskriminierung zu suchen, weil ich mich sehr viel damit beschäftige.
J.S.: Zum Zeitpunkt unseres Interviews steht noch nicht fest, ob das Projekt „Ready, steady, go“ nach dem Jahr 2022 weiter durch den DAAD finanziert wird. Was würden Sie empfehlen?
A.B.T.: Ich finde es schade, wenn das nicht weitergehen würde. Ich bin der Meinung, dass sowas auch sehr wichtig ist. Also für uns, für Menschen mit Migrationshintergrund, die Soziale Arbeit studieren möchten. In der Flüchtlingshilfe fehlen viele Menschen, die die Erfahrung Flucht selbst erlebt und das Studium Soziale Arbeit erfolgreich absolviert haben. Sie könnten in vielen Situationen sehr gut helfen. Deswegen würde ich mich sehr freuen, wenn das Projekt weiterläuft.
J.S.: Gibt es etwas, was Sie sich von der Hochschule, von der Politik oder der Gesellschaft wünschen?
A.B.T.: Zum Beispiel nach dem rassistischen und diskriminierenden Vorfall in dieser Chatgruppe ist es besonders wichtig, Toleranz zu zeigen. Diskriminierung vermeiden. Den interkulturellen Austausch ermöglichen. Das sind Sachen, die mir sehr am Herzen liegen. Natürlich auch innerhalb der Hochschule. Ich bin sehr dankbar, dass mir die katho diesen Studienplatz ermöglicht hat. Auch für die Unterstützung im Studium und den Dozierenden, die sich für mich eingesetzt haben, sage ich: Danke!
Der 37-jährige Ägypter Amir Tadres absolvierte von September 2017 bis August 2020 seinen Bachelor in Sozialer Arbeit mit der Note 1,5 an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, am Standort Paderborn. Amir Tadres ist verheiratet, Vater von vier Kindern und ist seit 2013 in Deutschland. Während seines Studiums arbeitete er in Teilzeit und ist seit seinem erfolgreichen Abschluss als Sozialarbeiter im Sozialamt Altenbeken beschäftigt. 2019 bekam Herr Tadres als ausländischer Studierender den DAAD-Preis des Deutschen Akademischen Austauschdienstes für seine besondere akademische und kulturelle Leistung.
Lara Dulige: Können Sie bitte Ihren akademischen/beruflichen Werdegang beschreiben?
Amir Tadres: In Ägypten habe ich eine Ausbildung im Bereich Industrietechnik und Fachgeräte absolviert. Danach habe ich drei Jahre lang evangelische Theologie studiert, aber leider nicht abgeschlossen. In Deutschland habe ich zunächst zwei Jahre lang bei den Maltesern als Flüchtlingsbetreuer gearbeitet. Bei dieser Tätigkeit habe ich für mich gelernt, dass mir die Arbeit im Bereich der Sozialen Arbeit viel Freude macht und ich in diesem Feld gerne arbeiten möchte. Deshalb habe ich mich dann an der katho in Paderborn beworben. Aufgrund der Sprache und eines vollkommen neuen Bildungssystems war der Beginn des Studiums sehr schwierig. Zu Beginn habe ich mir gedacht, dass ich mein Studium nicht in Regelstudienzeit absolvieren werde, so wie es andere Studierende schaffen. Ich habe mich selbst bestärkt und mir immer wieder gesagt, dass ich weiterkämpfen werde, auch wenn ich 9 oder 12 Semester für mein Studium brauche. Mein Ziel war es, das Studium zu schaffen, egal wie lange es dauert. Glücklicherweise hat es jedoch sehr gut geklappt, weil ich viel für mein Ziel gekämpft habe. Nebenbei musste ich zudem 20 Stunden pro Woche arbeiten und Sprachkurse belegen. Ich habe viel trainiert, wie man eine Hausarbeit schreibt oder eine Präsentation macht. Das waren neben der Fürsorge für meine Familie Dinge, die die Zeit meines Studiums geprägt haben.
L.D.: Was waren die großen Herausforderungen, als Sie angefangen haben zu studieren?
A.T.: Ganz anders und kompliziert war für mich zunächst das wissenschaftliche Arbeiten und die Beschäftigung mit einem Hausarbeitsthema, z.B. Recherche, Schreiben, Literatursuche.
Ein weiterer Aspekt, der zu Beginn sehr schwierig war, war die Belegung der Seminare. Glücklicherweise haben mir die damaligen Hilfskräfte des Projekts durch den täglichen Kontakt sehr viel geholfen. Ich musste lernen, wie man Präsentationen hält und wie man richtig für Klausuren lernt. In Ägypten ist das Schulsystem und die Art des Lernens eine ganz andere. Dort muss man den gesamten Stoff auswendig lernen. Deshalb konnte ich sehr gut auswendig lernen, aber habe manchmal nur 10 Prozent des Gelesenen wirklich verstanden. In Deutschland musste ich mich dann mit teilweise sehr komplexen Texten, z.B. aus der Philosophie beschäftigen, um den Inhalt richtig zu verstehen. Dieser Veränderungsprozess hat am Anfang bei mir sehr lange gedauert. Für meine erste Klausur im Studium habe ich alles auswendig gelernt und konnte die Fragen alle sehr schnell beantworten. Die Methodik des Verstehens war hier eine ganz andere als in Ägypten. Das ist sicherlich ein Aspekt, der allen Studierenden aus arabischen Ländern in Deutschland zunächst sehr schwer fallen wird. Für mich war deshalb klar, dass ich lernen muss, wie man hier am besten lernt.
Ich war zu Beginn des Studiums 33 Jahre und musste mich in einem fremden Land in einem anderen Schulsystem sehr umgewöhnen.
L.D.: War Ihnen bewusst, dass Sie mit dem Studium der Sozialen Arbeit den höchsten akademischen Abschluss in Deutschland machen? War Ihnen das wichtig?
A.T.: Ja, das war mir klar und es war mir sehr wichtig, diesen Abschluss zu haben. In Ägypten habe ich nur eine Ausbildung gemacht und mein Studium abgebrochen. Deshalb war es mir sehr wichtig, hier in Deutschland einen akademischen Abschluss zu haben. Das war ein großer Wunsch von mir.
Parallel zu der Bewerbung an der katho habe ich mich noch für eine Ausbildung zum Bürokaufmann beworben. Als ich für beides eine Zusage erhalten habe, war ich zunächst sehr verwirrt. Ich hatte vor den beiden Zusagen bereits viele Absagen von Arbeitsstellen und Ausbildungsplätzen erhalten. Daher musste ich dann gut überlegen, ob ich die Ausbildung oder das Studium beginne. Wenn ich die Umschulung zum Bürokaufmann gemacht hätte, hätte ich 68 Prozent meines letzten Gehalts bekommen. Mir war bewusst, dass ich bei der Aufnahme des Studiums kein Geld bekomme und zusätzlich die Semestergebühren zu zahlen sind. Da meine Frau noch in der Ausbildung war, brauchten wir jedoch das Geld. Das war damals für mich keine leichte Entscheidung. Letztendlich habe ich mit meiner Frau zusammen überlegt und wir haben uns entschieden, dass ich das Studium beginne, da ich immer das Ziel des akademischen Abschlusses hatte. Unabhängig davon, wie viel Stress oder Zeit es kostet, wollte ich das Studium hinkriegen.
Zu Beginn war es finanziell noch etwas schwierig, aber als meine Frau dann ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, konnte sie in Vollzeit arbeiten. Im ersten Semester habe ich nur studiert und gegen Ende des Semesters habe ich einen Job bei der Gemeinde Altenbeken bekommen. Ich wollte es gerne versuchen, damit ich so mein Studium weiter finanzieren konnte. Das war eine sehr harte Zeit mit wenig Schlaf. Vormittags hatte ich Vorlesungen, anschließend bin ich zur Arbeit nach Altenbeken gefahren. Auf der Zugfahrt nach Hause habe ich dann gelernt und nach dem Abendessen lange weiter gelernt. Ich war da wirklich ganz tief in diesem Thema. Im Nachhinein frage ich mich, woher ich die Kraft hatte, so viel zu lernen und zu arbeiten.
L.D.: Das sind sehr große Belastungen, die Sie da schildern. Was hat Ihnen bei der Bewältigung geholfen?
A.T.: Für mich persönlich war es sehr gut, dass ich an der katho Ansprechpartner hatte, an die ich mich immer mit meinen Fragen wenden konnte. Die Hilfskräfte waren zum Glück zeitlich immer sehr flexibel und haben sich an meine freien Zeiten angepasst. Sie haben immer über meine Präsentationen gelesen und mir Verbesserungsvorschläge gegeben. Über diese Hilfe bin ich immer noch sehr dankbar und dadurch habe ich viel gelernt und mich nie alleine gelassen gefühlt. Was mir außerdem geholfen hat, dass ich nach dem zweiten Semester einen ehemaligen Professor der Uni Paderborn kennengelernt habe. Ich hatte einmal die Woche Nachhilfe bei ihm und er hat mir bei meinen Hausarbeiten mit der Grammatik geholfen. Die Dozent_innen wussten, dass ich das hab korrigieren lassen und hatten zum Glück kein Problem damit. Ganz wichtig war auch, dass die Dozent_innen an der katho viel Verständnis hatten. Dadurch lief mein Studium problemlos ab. Ich war immer sehr gerne an der katho und bin nach meinem Studium mit einigen noch gut befreundet. Ich kann sagen, dass ich hier wirklich tolle Menschen kennengelernt habe – nicht nur Studierende, sondern auch Dozent_innen.
L.D.: Sie hatten gesagt, dass Sie am Ende des ersten Semesters Ihren Job bei der Gemeinde Altenbeken begonnen haben. Dort arbeiten Sie jetzt immer noch. Könnten Sie bitte die Entwicklung beschreiben?
A.T.: Das war ganz interessant. Man hat im Studium immer theoretisch gelernt und konnte das dann bei der Arbeit anwenden. Ich konnte immer die Inhalte des Studiums mit meinem Beruf verbinden. Bei der Arbeit habe ich immer wieder darüber nachgedacht, wie ich das im Studium gelernt habe. Wenn ich etwas nicht wusste, habe ich einen Dozenten gefragt. Als ich in der Arbeit viel zu tun hatte, habe ich an der katho eine extra Supervision bekommen und konnte dort meine Probleme lösen. Davon habe ich enorm profitiert.
L.D.: Wie haben Sie damals ihre Stelle bekommen?
A.T.: Ich bin ehrenamtlich bei den Maltesern tätig. Nach einem Treffen der Ehrenamtlichen hat mir einer gesagt, dass die Gemeinde Altenbeken einen Sozialarbeiter sucht, der für die Flüchtlinge dort zuständig sein wird. Er hat mir gesagt, dass ich mich dort melden soll, weil er weiß, dass sie immer noch jemanden suchen, auch wenn die Stellenanzeige bereits abgelaufen ist. Ich habe mich dann dort gemeldet und mich dort beworben. Drei Tage später bekam ich einen Anruf, dass der Bürgermeister mich gerne kennenlernen möchte. Bereits fünf Minuten nach meinem Bewerbungsgespräch erhielt ich die Zusage für die Stelle. Sieben Personen hatten dort ebenfalls ein Gespräch, die Stelle jedoch nicht bekommen, da es dem Bürgermeister wichtig war, dass die Person andere Sprachen kann und einen anderen kulturellen Hintergrund hat. Deshalb habe ich nun diese Stelle.
L.D.: Wie wichtig war das für Sie, für Ihr Selbstwertgefühl, für Ihr Ankommen in Deutschland, dass sich Ihr Leben immer mehr gefügt hat? Was hat das mit Ihnen gemacht?
A.T.: Das hat vieles gemacht. Ich habe meiner Frau schon gesagt, wenn die Kinder größer sind und wir wieder mehr Luft haben, dass ich darüber ein Buch schreiben möchte. Ich bin sehr stolz auf den Verlauf und bin Deutschland sehr dankbar, dass das Land uns das alles ermöglicht hat. In Ägypten beispielsweise hätte ich mit 33 Jahren keinen Studienplatz mehr bekommen. Hier konnte ich trotz meines Alters und meiner Herkunft, die Chance erhalten zu studieren. Auch die Unterstützung, dass man sich nicht alleine fühlt, ist so ein Paket, das man nicht überall findet. Ich bin nicht nur stolz auf meinen Erfolg, sondern auch denen sehr dankbar, die mich immer unterstützt haben. Ich glaube nicht, dass ich das alles alleine geschafft hätte.
L.D.: Haben Sie sich aufgrund Ihres Werdegangs entschieden, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen?
A.T.: Die deutsche Staatsbürgerschaft habe ich seit zwei Jahren. Ich konnte sie aufgrund meiner guten Integration nach 6 Jahren bekommen. Das war sehr wichtig für mich. Das war auch Punkt der Anerkennung. Es ist wichtig und schön und ich bin stolz, dass ich einen Studienplatz bekommen habe, dass ich im Amt als Ausländer eine Arbeitsstelle bekommen habe, dass ich mein Studium mit guten Noten abgeschlossen habe, dass ich den DAAD- Preis bekommen habe, dass ich die Staatsangehörigkeit erhalten habe, dass ich vier Kinder habe. Das sind solche Punkte, die stehen in meiner Geschichte und darauf werde ich immer stolz sein.
L.D.: Was hat der DAAD-Preis für Sie bedeutet?
A.T.: Das war die beste Anerkennung für meine Zeit. Anerkennung für die Leistung in meinem Studium und, dass man sich angesehen fühlt. Das ist sicher etwas, was sich jeder ausländische Studierende wünscht. Zu sehen, dass man angesehen wird und, dass die Leistungen und das Engagement anerkannt werden, ist ein schönes Gefühl.
L.D.: Wenn Sie an die Zeit an der katho zurückdenken: Gab es Punkte, bei denen Sie sich alleine gelassen fühlten?
A.T.: Nein. Solche Punkte gab es nicht. Ich hatte immer Ansprechpersonen und wenn immer alles einfach wäre, dann hätte man nicht das Gefühl, dass man gekämpft hat. Man muss selbst seine Leistungen erbringen und kann sich nicht immer auf andere verlassen. Es ist mein Studium und am Ende mein eigener Abschluss und ich muss dafür auch etwas tun. Man ist sehr dankbar für die ganze Unterstützung, man darf sie jedoch auch nicht ausnutzen und immer mehr fordern. Ohne Unterstützung hätte ich das alles nicht geschafft, aber natürlich muss ich auch selbst dafür arbeiten.
L.D.: Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre sehr interessanten Ausführungen!
Berivan Ali hat bereits sieben Semester Englische Literatur an der Universität Aleppo in Syrien studiert. Seit dem Wintersemester 2019/20 ist sie im Bachelorstudiengang Soziale Arbeit am Standort Aachen der katho immatrikuliert. Die 33-jährige Syrerin engagiert sich neben ihrem Studium im Arbeitskreis International und interessiert sich insbesondere für den internationalen Austausch.
Jasmin Sonnier: Frau Ali, bitte erzählen Sie mir von Ihrem bisherigen Bildungsweg.
Berivan Ali: In Syrien habe ich mein Abitur abgeschlossen. Schon als Kleinkind wollte ich englische Literatur studieren, weil ich mich für die englische Sprache interessiere. Allerdings konnte ich das Studium zunächst aufgrund einer zu geringen Abitur-Punktzahl nicht beginnen. Ich habe dann das Abitur wiederholt und die ersten zwei Semester des Studiums der englischen Literatur in Latakia studiert. Dann bin ich nach Aleppo zurückgezogen und habe dort bis zum siebten Semester studiert. Dann begann der Krieg und ich konnte mein Studium nicht abschließen. Ich musste es abbrechen und fliehen.
J.S.: Darf ich Sie fragen, warum Sie aus Aleppo fliehen mussten?
B.A.: Die Stadt wurde bombardiert, es war sehr gefährlich. Ich wollte mein Studium fortsetzen. Aber mein Bruder, der in einem anderen Land war, ist zu mir gekommen und hat gesagt: „Wir müssen fliehen!“ So ging es nicht weiter, denn unsere Eltern waren während des Krieges gestorben. Deswegen haben wir die Entscheidung getroffen, dass ich die Stadt verlassen muss. In dieser Zeit habe ich auch ein paar Prüfungen an der Uni geschrieben und hatte große Angst.
J.S.: Warum haben Sie sich schließlich für das Studium der Sozialen Arbeit entschieden?
B.A.: Eigentlich wollte ich weiter englische Literatur studieren, aber in Deutschland muss man neben der englischen Sprache ein weiteres Fach studieren. Das braucht Zeit und Kraft. Zudem wurde dies in Aachen nicht angeboten. Ich habe dann einen deutschen ehrenamtlichen Lehrer kennengelernt, heute mein bester Freund. Er erzählte mir von einem Studenten aus Syrien, der an der katho in einem Masterstudiengang eingeschrieben ist. Ihn habe ich damals getroffen, zum Studium befragt – und das Fach Soziale Arbeit weckte mein Interesse. Ich selbst schätze mich als offen ein, ich arbeite gerne mit Menschen. Nach meiner Ankunft in Deutschland hatte ich große Schwierigkeiten, weil ich alleine zurechtkommen musste und zunächst nicht wusste, dass es Beratungen für Geflüchtete gibt. Ich dachte mir, vielleicht kann ich diese Schwierigkeiten für andere verschwinden lassen, und entschied: Ich mache das – obwohl es anfangs sehr schwierig für mich war, denn ich war bereits 30 Jahre alt. Ich sagte mir, ich habe auch in meinem Heimatland studiert, aber meine Wünsche leider nicht erfüllt. Ich will das hier weitermachen. Dann habe ich mich mit Hilfe des Lehrers beworben.
J.S.: Nun sind Sie schon im 5. Semester – was interessiert Sie denn im Studium besonders?
B.A.: Ich sehe mich in der Arbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund, denn als Nicht-Muttersprachlerin habe ich dort meine Stärke. Ich spreche kurdisch als Muttersprache und auch arabisch. In meiner praktischen Arbeit bisher in einer Grundschule oder in einem Übergangswohnheim und jetzt bei der Caritas habe ich erfahren, dass ich viele Missverständnisse abbauen kann zwischen den Menschen. Als Frau kann ich zudem Frauen aus meinem Heimatland viel beibringen – denn Frauen werden in Syrien anders behandelt als in Deutschland. Ich kann die Brücke sein zwischen den Frauen hier und dort. In Syrien gibt es keine Beratungsstellen. Die Menschen helfen zwar untereinander, aber das ist nicht professionell. Durch dieses Studium kann man forschen und neue Themen erlernen. Man lernt beispielsweise auch viel über die Entwicklung eines Kindes und das Verhalten von Menschen. Ich hinterfrage sehr viel und suche immer nach Antworten.
J.S.: Welche Unterschiede gibt es im Studienalltag in Deutschland im Vergleich zu Syrien?
B.A.: Zu Beginn musste ich mich statt auf den Inhalt zunächst auf das System konzentrieren, da es sich sehr unterscheidet. In Syrien wählt man beispielsweise keine Seminare. Das finde ich hier super, weil ein komplexes Thema in kleine Seminare unterteilt wird, die ich nach Interesse wählen darf. In Syrien gab es diese Wahl nicht – ich kann natürlich nur von meiner Erfahrung im Studiengang Englische Literatur sprechen. Da mussten wir sehr viel Theorie auswendig lernen. Im Studium an der katho habe ich erfahren, dass man sich eine eigene Meinung bilden kann. Neu sind für mich auch Gruppenarbeiten, eine große Herausforderung im Bereich Sozialarbeit. Dann lernt man praktisch, mit Menschen in Gruppen umzugehen. Eine Übung für die Zukunft. In Syrien hatten wir keine Gruppenarbeit. Es gab auch keine Online-Veranstaltungen oder Bearbeitungen in Word. Während des Studiums in Syrien habe ich kaum einen Computer nutzen müssen. Es war eben viel Theorie auf Papier.
J.S.: Wie haben Sie die Unterstützung durch das Projekt „Start Now“ wahrgenommen? Was fanden Sie gut und welche Verbesserung wünschen Sie sich?
B.A.: Der Vorbereitungskurs hatte den Schwerpunkt Sprache. Ich bin aber der Meinung, man könnte als Voraussetzung für den Studienbeginn Sprachniveau C1 setzen und die Interessierten besuchen eigenständig einen Kurs dazu. In den vier Monaten Vorbereitungskurs könnte man stattdessen die Studierenden mehr auf die Organisation und Struktur des Studiums vorbereiten. Denn sie kommen aus unterschiedlichen Ländern mit jeweils anderen Studiensystemen. Im Vorbereitungskurs sollten wir, wenn ich mich richtig erinnere, eine mündliche Prüfung bestehen. Wir sollten über Pioniere der Sozialen Arbeit referieren. Das fand ich sehr gut, weil das auch Inhalt des Studiums war und ich beispielsweise Alice Salomon schon kennengelernt hatte und wusste, wie ich eine Präsentation als eine Gruppenarbeit vorbereite und halte. Das war für mich eine Motivation, dass ich das schaffe und beherrsche, obwohl ich keine Muttersprachlerin bin. Ein großes Problem zum Studienbeginn war für mich die Gruppenarbeit zur Präsentationsvorbereitung mit Studierenden, die Deutsch als Muttersprache haben. Wir mussten direkt gemeinsam in Gruppen arbeiten und ich habe mich immer geschämt und zunächst aus Angst nicht gesprochen. Darauf könnten Sie die Studierenden im Vorbereitungskurs noch besser vorbereiten.
J.S.: Wie nehmen Sie es im Studienalltag wahr, eine Studierende aus der Gruppe des Start Now-Projekts zu sein?
B.A.: Das Projekt ist eine besondere Behandlung für die Menschen, die zum Beispiel Schwierigkeiten hatten, bis sie das notwendige Sprachniveau erreichten. Ich nehme das sehr positiv wahr und nicht als Ausgrenzung. Man kann die Start Now Studierenden mit anderen Studierenden, die hier geboren sind, nicht vergleichen. Wir haben das auch in unserer Start-Now Supervisionsgruppe häufig gehört. Es ist gut, dass die Studierenden vorbereitet werden, dass sie besondere Unterstützung bekommen.
J.S.: Haben Sie Wünsche an die Hochschule? Vielleicht auch generell an die Gesellschaft, an die Politik?
B.A.: Hier ist das Leben ganz anders. Man arbeitet viel, studiert zusätzlich und dies ist zusammen mit der Fluchterfahrung und anderen privaten Problemen viel zu viel. Ich wünsche mir im Start-Now Projekt noch mehr Ansprechpartner_innen, denn Frau Zöller ist toll und wirklich eine große Unterstützung. Ich bin glücklich, dass sie da ist. Ich hätte aber zum Beispiel gern monatliche Gespräche, so wie im Arbeitskreis International. Auch bräuchten wir Unterstützung im Umgang mit dem Computer und wie ich mich um ein Stipendium bewerbe. Als Nicht-Muttersprachlerin wünsche ich mir Integration – aber: Der Schlüssel ist die Sprache, deshalb liegt diese Aufgabe erstmal bei mir selbst. Für eine Person mit Migrationshintergrund finde ich es eine gute Idee, wenn sie im Bereich Migration arbeitet. So kann man Missverständnisse zwischen Klient_innen der Sozialen Arbeit und deutschen Mitarbeitenden beseitigen. Es ist wichtig, dass die Politik Nicht-Muttersprachler_innen diese Chance gibt, sie motiviert und ihnen eine Arbeitsstelle ermöglicht. Besonders wichtig ist das in der Arbeit mit Frauen. Ich als Frau, die in der syrischen Gesellschaft gewohnt hat, kann zum Beispiel die Ängste anderer Frauen verstehen. Ja, ich möchte die Chance auf eine gute Arbeitsstelle erhalten, das ist eine große Motivation.
Frau B. (25 Jahre, aus Afghanistan) hat im Wintersemester 2020/21 ihr Bachelorstudium der Sozialen Arbeit an der katho am Standort Aachen aufgenommen. Vorher hat sie ihr Abitur in Deutschland abgelegt.
Interviewer_in: Bitte stellen Sie sich kurz vor und erzählen Sie uns von Ihrem Bildungsweg von der Schule bis heute zum Studium.
Frau B.: Ich bin bis Anfang der zehnten Klasse in Afghanistan zur Schule gegangen. Dann bin ich nach Deutschland gekommen und habe hier die neunte und zehnte Klasse wiederholt und mit Qualifikation bestanden. Deswegen habe ich mich entschieden, mich weiterzubilden und auch noch das Vollabitur im Bereich Gesundheit zu absolvieren. Drei Jahre habe ich das dann gemacht und nach dem Abitur habe ich entschieden, dass ich auch noch studieren muss. Mein Ziel war es Medizin zu studieren, aber meine Noten waren nicht gut genug. Deswegen habe ich mir einen Bereich ausgesucht, in dem ich trotzdem Menschen helfen kann. Deswegen war Soziale Arbeit die beste Wahl für mich.
I: In welchem Semester sind Sie jetzt?
B: Im dritten Semester.
I: Was sind persönliche Herausforderungen im Studium gewesen?
B: Die Sprache ist natürlich eine Herausforderung für mich. Im Kontext verstehe ich worum es geht, aber man muss die Texte immer sehr gut verstehen und das ist nicht immer einfach. Das war die einzige Herausforderung für mich, ansonsten sind die anderen Sachen wirklich schön und interessant.
I: Ja, eine Sprache zu lernen, das braucht einfach Zeit.
B: Genau.
I: Wie hat das Studium Ihren Alltag beeinflusst und sich auf das Ankommen in Deutschland ausgewirkt?
B: Zu Studieren hat mir wirklich einen anderen Blick auf mich selbst ermöglicht. Früher habe ich immer an andere Personen gedacht und ihnen immer meine Zeit geschenkt. Aber jetzt brauche ich auch ein bisschen Zeit für mich, damit ich mein Studium schaffen kann. Ich lerne viel über Zeitmanagement – ich versuche ein bisschen Zeit für mich und mein Studium zu haben und ein bisschen für anderes. Ich habe früher auch viel Ehrenamtliches gemacht, aber das muss jetzt warten, damit ich mich auf mein Studium konzentrieren kann. Auf lange Sicht sind diese drei Jahre nur eine kurze Zeit und dann kann ich den anderen Menschen noch besser helfen.
I: Aber Sie sind so damit zufrieden? Oder ist das eher belastend, dass Sie so vieles nicht mehr machen können?
B: Das Ziel ist ja, dass ich später besser helfen kann, mit besserer Qualität. Deswegen belastet es mich nicht.
I: Ja genau, das klingt gut. Wie meistern Sie die Finanzierungssituation im Studium?
B: Die Finanzierung ist wirklich nicht so schön. Ich bekomme nur 480 Euro BAföG und deswegen muss ich auch noch nebenbei arbeiten. Alleine die Fahrtkosten und die notwenigen Lebensmittel zu bezahlen – das alles kostet. Man kann nun einmal nicht umsonst studieren, aber ich komme zurecht. Man muss sich einfach anpassen.
I: Wie lange fahren Sie immer zur Hochschule?
B: Ungefähr eine Stunde jeden Tag.
I: Und das ist wahrscheinlich schon anstrengend, oder?
B: Ich muss früh aufstehen, aber das tut mir eigentlich gut, denn so gehe ich auch früher schlafen. Früher bin ich immer spät schlafen gegangen.
I: Sehr viel Disziplin.
B: Ja.
I: Wie ist das mit den Kommilitonen? Kommen Sie da leicht in Kontakt oder gibt es da auch Schwierigkeiten?
B: Allgemein kann ich sagen, dass es hier eine gute Gemeinschaft gibt. Zum Beispiel kenne ich jemanden aus dem ersten Semester, wir haben in einem Projekt zusammengearbeitet. Sie ist ein tolles Mädchen. Also ich muss sagen, ich liebe sie. Sie ist so nett ist und auch mit anderen Kommilitonen komme ich klar, wenn ich sie etwas frage, beantworten sie mir das. Aber in der Coronazeit haben wir nicht so viel Kontakt gehabt, deshalb ist es schwieriger geworden, aber sonst ist alles ok.
I: Stimmt, Sie haben ja eigentlich die meiste Zeit Ihres Studiums digital studiert.
B: Genau, da war es schwierig mit jemandem Kontakt zu haben.
I: Also sind Sie eher froh, dass es wieder in Präsenz ist oder macht es Ihnen auch Angst, dass es wieder vor Ort ist?
B: Nein, ich bin sehr froh, dass das in Präsenz ist, weil jetzt kann ich wirklich wahrnehmen, dass ich Studentin bin.
I: Ich verstehe.
B: Wenn man Fragen hat, kann man danach direkt zu Dozenten gehen und ganz frei sprechen. Zum Beispiel hat Herr X letztens gemerkt, dass ich Ausländerin bin und nicht alles sofort verstehen kann. In der ersten Sitzung ist er zu mir gekommen und sagte: „Schäm dich nicht, wenn du Fragen hast“. Er hat mir das Vertrauen gegeben, dass ich frei bin und meine Meinung auch äußern kann und dass er mir gerne helfen würde – und sowas kann man nicht online erfahren.
I: Ja, das geht verloren. Jetzt kurz zum Projekt. Da haben sie ja freiwillig daran teilgenommen, weil Sie einen deutschen Schulabschluss haben. Fanden Sie diese Projekte hilfreich?
B: Sehr. Also ich finde das sehr, sehr hilfreich, weil ich früher keine Sprachkurse offiziell besucht und ich mir alles selbst beigebracht habe. Aber dieser Deutschkurs hat mir geholfen, um zu lernen wie ich die Sätze richtig aufbauen muss. Vieles muss man auch erst im Studium lernen, aber es war wirklich sehr hilfreich für mich.
I: Das freut mich. Haben Sie trotzdem noch Verbesserungsvorschläge für die Hochschule oder für das Programm, wie man Sie noch besser unterstützen und begleiten kann oder was für Themen in Kursen noch fehlen?
B: Also ich würde gerne vorschlagen, dass es eine Veranstaltung zwischen den Menschen mit Fluchterfahrung und den Deutschen, die hier geboren sind, geben sollte. Dass sie zusammenkommen und einfach über die verschiedenen Kulturen und andere Aspekte miteinander reden, sich einfach austauschen, damit alle verstehen, welche Erfahrungen wir gemacht haben. Sie sind nicht hier, um nur abhängig von anderen zu sein. Sie bemühen sich auch, also oft sogar doppelt so stark wie die anderen Studierenden. Dass sie diesen Einblick bekommen, finde ich sehr wichtig. Denn später müssen sie alle zusammenarbeiten und in der Sozialen Arbeit müssen sie ein offenes Herz haben, eine offene Meinung über andere Menschen. Leider ist das oft nicht der Fall und das ist auch nicht ihre Schuld, weil sie haben wirklich keinen Kontakt mit Geflüchteten und wissen nicht, was hinter jeder Person für eine Geschichte steht und was sie für Erfahrungen gemacht haben und wie sehr sie sich bemüht haben, bis sie an dieser Stelle angekommen sind. Und wenn das verstanden und respektiert würde, dann gäbe es hier kein Problem zwischen den Menschen, glaube ich.
I: Ja, das hat, glaube ich, so wie Sie das beschreiben, einen großen Wert für die Soziale Arbeit, wenn man diese Einstellung bekommen könnte. Ich hatte auch schon mal darüber nachgedacht, ob man etwas wie ein internationales Café gründet, wo man zusammenkommen kann, um sich auszutauschen oder einen Film zu gucken, Sport zu machen…
B: Zum Beispiel könnte jeder über seine Heimat, über die Schönheit, über die Sehenswürdigkeiten und die Geschichte vor und nach dem Krieg sprechen. Ich denke, wenn man die Menschen wirklich sieht und fühlt, dann bekommt man auch einen anderen Blick. Und viele hatten diesen Einblick bisher nicht. Sie denken, dass Geflüchtete immer nur Krieg erlebt haben.
I: Ja, ich habe auch oft das Gefühl, dass es leider so ist, dass viele gerne helfen und unterstützen, aber auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten ist ein anderer Schritt. Vielleicht würde etwas in der Art dazu beitragen, dass man sich einfach auf einer anderen Ebene kennenlernt.
B: Genau, wenn wir zum Beispiel später bei der Ausländerbehörde arbeiten oder dem Jobcenter, dann haben wir diesen Blick nicht: Ich bin höher als du und du bekommst Geld von meiner Steuer. Wir würden auch die wirkliche, andere Geschichte dahinter sehen und wenn man diesen Blick hat, dann hätte man bestimmt auch mehr Spaß an seiner Arbeit.
I: Ja, vielen Dank. Dann sind wir schon beim Thema Zukunft. Haben Sie schon eine Idee, wie Sie sich Ihre Zukunft vorstellen, wenn sie fertig mit dem Studium sind? Wollen Sie noch einen Master machen oder direkt in den Beruf starten?
B: Ich würde gerne in den Beruf starten, ich bin genug zur Schule gegangen. Ich bin jetzt 25 und bis ich mein Studium fertig habe, bin ich fast 30 und deswegen würde ich gerne auch etwas schaffen außer Schule. Ich würde gerne arbeiten, weil ich mag es zu arbeiten und mit Menschen in Kontakt zu sein. Ich würde gerne das anwenden, was ich gelernt habe, das finde ich schön.
I: Haben Sie auch schon eine Idee, mit wem Sie genau arbeiten wollen oder sind Sie ganz offen?
B: Eigentlich bin ich offen, aber ich würde gerne mit Geflüchteten arbeiten, weil es viele von ihnen gibt und sie bei null anfangen müssen. Ich würde auch gerne im kulturellen Bereich arbeiten. Viele Geflüchtete kommen an einen Punkt, an dem sie sich mit dem Thema Integration beschäftigen müssen. Da muss man ein bisschen von sich wegmachen und ein bisschen Neues bekommen, von beiden Seiten – und das fällt vielen sehr schwer. Zum Beispiel gibt es noch Familien, die sagen, dass Frauen zu Hause bleiben sollen oder dass Mädchen sofort heiraten müssen. Ich würde gerne mit Familien arbeiten, um zu erreichen, dass Kinder weiter ausgebildet werden und sich eine Zukunft aufbauen können.
I: Was denken Sie macht Sie als Sozialarbeiterin später zu etwas Besonderem? Sie haben natürlich diese Mehrsprachigkeit, die Sie mitbringen. Aber welche Fähigkeit zeichnet Sie noch aus?
B: Menschen zu verstehen. Ihren Schmerz zu verstehen und mitzufühlen. Ich glaube, das macht mich stark, weil ich habe viele unterschiedliche Sachen in meinem Leben erfahren und wenn die Menschen mit ihren Problemen kommen, dann kann ich diese verstehen. Vielleicht sind manche Probleme für jemand anderen nicht so schlimm oder sie sagen „doch, das geht“. Aber in diesem Moment ist es vielleicht für die betroffene Person wirklich sehr schwer und man muss Mitgefühl haben, damit sie sich sicher fühlen, damit sie denken „Okay, es gibt jemanden in dieser Welt, der mich versteht“. Ich denke, ich kann dieses Vertrauen aufbauen. Das macht mich ein bisschen stärker und beeinflusst meine Arbeit sehr.
I: Das kann ich mir auch gut vorstellen. Ich denke auch, wenn man einen sehr geraden Lebensweg hat – man wohnt zu Hause, dann geht man zur Schule, dann studiert man, fährt einmal im Jahr in den Urlaub und fertig – dann fehlen einem natürlich Lebenserfahrungen. Einerseits ist das natürlich ein schönes ruhiges Leben, aber ich denke gerade in der Sozialen Arbeit bringt es einen Wert mit sich, wenn man selbst schon viel erlebt und gesehen hat. Dann die letzte Frage: Haben Sie einen Ratschlag für neue Studierende, die in diesem Projekt starten?
B: Darüber muss ich etwas nachdenken. Ich finde es wichtig, sich klarzumachen: Warum bin ich hier? Was kann ich in der Sozialen Arbeit einbringen? Soziale Arbeit ist so ein großes Thema. Dafür braucht man Empathie und Geduld. Kann ich mich seelisch so weiterentwickeln und mich auf jemanden einlassen, der mit seinem Schmerz und seinen Ängsten zu mir kommt. Das würde ich gerne sagen, dass man nicht nur wie ein Sachbearbeiter denken sollte und Ende. Sondern dass man versucht ein Mensch zu sein, der die Welt schöner macht. Sie müssen sich das zuerst für sich klarmachen, schaff ich das oder nicht? Sonst fehlt noch etwas.
I: Meinen Sie, da ist ein Praktikum eine gute Idee, um herauszufinden, ob man das überhaupt kann? Für viele ist das manchmal auch zu viel, wenn sie wieder an ihren eigenen Schmerz erinnert werden.
B: Teilweise ja. Einen großen Teil kann man sich im Praktikum vorstellen.
I: Haben Sie sonst noch etwas, das Sie sagen wollen?
B: Ich würde sagen, wir sollen niemals vergessen, dass wir alle Menschen sind und wir sind alle gleich. Egal, welche Hautfarbe wir haben und welche Sprache wir sprechen. Wir sind alle gleich und das einzige, das den Unterschied ausmacht, sind unsere Haltung, unser Verhalten und unsere Gedanken.
I: Sehr gut, ein schönes Abschlusswort. Vielen, vielen Dank.
B: Sehr, sehr gerne.
Ghada Mohammad (44 Jahre), vierfache Mutter, engagiert bei der Stadt Rheine, hat im WS 2019/20 ihr B.A.-Studium „Soziale Arbeit“ an der katho, Standort Münster, aufgenommen. Ihr Engagement wurde mit dem DAAD-Preis ausgezeichnet.
Muriel Schiller: Bitte stellen Sie sich kurz vor und erzählen Sie von Ihrem Bildungsweg von der Schule bis jetzt zum Studium an der katho.
Ghada Mohammad: Ich komme aus dem Norden Syriens, bin verheiratet und habe vier Kinder. Wir wohnen in Rheine. Mein Mann hat in Syrien als Tierarzt gearbeitet und hatte dort eine eigene Praxis. Ich selbst habe in Syrien zweimal Abitur und dann eine Ausbildung zur Grundschullehrerin gemacht. Nachdem ich aber die Kinder bekommen hatte, sagte ich: „Eine Ausbildung reicht mir nicht. Ich möchte gerne studieren!“ Dann habe ich nochmal das Abitur geschafft und zwei Semester Soziologie studiert, aber durch den Krieg 2014 ändert sich alles. Wir mussten so schnell es ging unsere Heimat verlassen. Mein Mann hätte als Tierarzt entweder der einen oder der anderen Partei in Syrien helfen müssen. Doch beide Parteien und ihre Ideen überzeugten uns nicht. Wir kämpften bis zuletzt, dass wir in unserer Heimat bleiben können, aber irgendwann wurde es zu gefährlich –für die Kinder, für uns. Am 4. November 2014 sind wir über Latakia in die Türkei geflohen, wo wir eine kleine Wohnung mieten konnten. Mein Mann hat dort nicht gearbeitet, einen Teil unseres Geldes hatten wir mitgenommen. Ich habe eine Schwester, die seit acht Jahren in Deutschland lebt. Damals gab es noch das Programm, dass die Leute ihre Verwandten der ersten Linie nachholen dürfen. So durften wir am 15. Januar 2015 nach Deutschland kommen. Nun zu meinem Weg: In Deutschland wollte ich so schnell wie möglich die Sprache lernen und besuchte die Deutschkurse der Caritas. Als ich dann den Integrationskurs besuchen durfte, konnte ich bereits etwas Deutsch sprechen und schreiben und erhielt erfolgreiche Ergebnisse. Ich wurde dann gefragt, ob ich ehrenamtlich bei der Tafel arbeiten möchte. Ich wollte das eigentlich als Unterstützung für zwei oder drei Wochen machen – aber die wollten, dass ich das weitermache (lacht). Und irgendwie ist die Tafel mittlerweile ein Teil meines Lebens. Dann erhielt ich ein Angebot als Dolmetscherin bei der Caritas und das mache ich immer noch. So habe ich die Sprache weiter gelernt und viele neue Leute getroffen. Ich wollte in dieser Zeit auch einen B2-Deutschkurs besuchen und eine Ausbildung als Erzieherin machen, hatte bereits einen Platz gefunden. Aber dann das Problem: Ich erhielt keine Erlaubnis für das notwendige Praktikum. Man brauchte einen Nachweis über 900 Stunden. Grund war, dass ich arbeiten und Geld verdienen sollte. Das kann ich gut nachvollziehen, aber es waren ja nur sechs Monate. Den B2-Kurs durfte ich auch nicht besuchen, obwohl es mir sehr wichtig war, die Grammatik zu lernen.
M.S.: Kam das Verbot vom Jobcenter?
G.M.: Ja – und Grund war, dass ich schon gut Deutsch sprechen konnte. Ich sollte arbeiten und Geld verdienen. Schließlich haben wir mit Hilfe eines Rechtsanwalts für drei Jahre die Aufenthaltserlaubnis bekommen und auch staatliche Unterstützung.
M.S.: Wie sind Sie zur katho gekommen?
G.M.: Eine Bekannte schlug vor, dass wir uns an einer Schule zur Ausbildung von Erzieher_innen beraten lassen. Dort riet man mir zu einem Studium der Sozialen Arbeit. In meinem Alter studieren? Und meine Sprachkenntnisse? Ich habe noch keinen B2-Kurs besucht… Wie kann ich später eine Hausarbeit schreiben oder ein Referat halten? Vier Kinder? Und dann auch noch in Münster – und jeden Tag zwei Stunden pendeln? Ich hatte zu viele Zweifel… Trotzdem schickte ich meine Bewerbungen ab – an die katho und an die Schule für Erzieher_innen. Nach unserem ersten Termin bei Ihnen hatte ich einen positiven Eindruck. Trotz Angst und weiterer Zweifel habe ich meine Unterlagen abgegeben und einen Antrag auf BAföG gestellt. Ich habe eine Arbeitsstelle als OGS-Betreuerin beim Jugend- und Familiendienst gefunden – und hatte die Chance auf eine unbefristete Stelle. Dann kam die Zusage der katho und ich durfte als Gasthörerin zwei- bis dreimal pro Woche teilnehmen. Mehr habe ich aufgrund meiner Stelle in der OGS nicht geschafft. Es war eine unglaublich große Unterstützung, dass ich hier an der katho den C1-Kurs machen konnte. Beim Jugend und Familiendienst habe ich dann gekündigt, damit ich mich so richtig auf das Studium vorbereiten konnte.
M.S: Was waren Ihre persönlichen Herausforderungen im Studium?
G.M.: Ehrlich gesagt war es nicht einfach mit Studierenden, die so alt waren wie mein ältester Sohn, der gerade Abitur macht. An vielen Stellen hat es richtig Spaß gemacht, aber an anderen Stellen war es sehr belastend. Dann kamen noch die Sprachkenntnisse dazu. Die Gruppe im StEP-Projekt war total nett und wir haben richtig gut zusammengearbeitet. Auch von unserem Dozenten Herrn Bonz habe ich viel Unterstützung bekommen. Aber vieles war für mich total neu und für die anderen nicht: Dass man Powerpoints machen muss, Zusammenfassungen zu einem Thema erstellt. Doch mit viel Unterstützung ging es. Aber es gab Studierende, die keinen direkten Kontakt mit mir haben wollten. Das Ältersein hat bestimmt auch eine große Rolle gespielt. Man hat ganz andere Interessen, einen anderen Einblick.
M.S.: Sie haben das Programm an der katho ja schon etwas beschrieben und gesagt, dass Sie viel Unterstützung erfahren haben. Gibt es auch etwas, das man aus Ihrer Sicht verbessern kann?
G.M.: In Bezug auf die Hochschule darf ich mich nicht beschweren – wo man fragt, bekommt man direkt Hilfe und Unterstützung. Davor habe ich großen Respekt. Das Programm selbst war auch immer eine große Hilfe, aber manchmal waren die Kurse zu spät. Ich habe oft gedacht, dass wir manche Anforderungen hätten besser meistern können, wenn die Kurse früher stattgefunden hätten.
M.S.: Danke für den Hinweis. Dann sind wir schon beim Thema Zukunft: Haben Sie schon Pläne, was Sie arbeiten und was Sie erreichen wollen?
G.M.: Aktuell mache ich mein Praktikum bei der Stadt, im Team der Beratung von Zuwanderern. Dort macht es total Spaß. Zudem bin ich immer erreichbar für das Frauenhaus, wenn die Hilfe brauchen bei Übersetzungen und jetzt zusätzlich für das Kinder- und Jugendheim. Ich betreue eine syrische Familie, die ein geistig behindertes Kind hat, und übersetze bei Bedarf. Mein Ziel ist auf jeden Fall, dass ich ehrenamtlich arbeite, solange ich dafür Zeit habe. Ansonsten möchte ich mein Studium absolvieren und danach arbeiten. Ich habe bereits die genannte Stelle bei der Stadt Rheine. Außerdem wurden wir als Familie eingebürgert. Ich denke, mehr hätte ich in den sechs Jahren nicht erreichen können (lacht).
M.S.: Wie erleben Sie sich als Arbeitskraft mit Fluchterfahrung? Ist das etwas Positives oder erleben Sie Schwierigkeiten?
G.M.: Es gibt Positives, aber auch schwierige Aspekte. Positiv ist mein Alter, das hätte ich nie gedacht. In meiner Arbeitswelt spielt mein Alter eine große positive Rolle.
M.S.: Weil Sie Lebenserfahrung haben?
G.M.: Ich bin eine Frau mit Migrationserfahrung, die selbst Familie und Kinder hat. Wenn man andere Familien beraten möchte, ist dies ein Vorteil. Nichts gegen die jungen Leute, aber es spielt eine Rolle.
M.S.: Man nimmt Sie ernster, weil Sie einfach Bescheid wissen?
G.M.: Ja, aber es kommt noch ein anderer Punkt hinzu: Für die Menschen ist das, was ich geschafft habe, eine sehr große Sache. Es gibt ihnen das Gefühl, es auch schaffen zu können. Die Mehrsprachigkeit ist positiv, denn ich kann die Leute teilweise in ihrer Muttersprache beraten. Aber sie hat auch eine negative Seite, wenn ich in die Rolle der Übersetzerin rutsche und nicht mehr als Sozialarbeiterin wahrgenommen werde. Das will ich nicht und bin da sehr vorsichtig. Ehrenamtlich mache ich das gerne, aber als Arbeit möchte ich das nicht.
M.S.: Wenn jetzt neue Studierende an die katho kommen, um Soziale Arbeit zu studieren, haben Sie da einen Rat? Viele haben ja am Anfang Angst und Sorgen.
G.M.: Per E-Mail habe ich Kontakt zu neuen Studierenden und beantworte viele Fragen: Was sind die Module und was macht man da? Welche Prüfungen muss man ablegen? Das erinnert mich an meine Situation, in der ich mir ebenfalls viele Sorgen machte. Denen, die die Sprache noch nicht perfekt sprechen, die neu in Deutschland sind, die Familie haben – die katho bietet ihnen so viele Möglichkeiten. Ich habe zwar keine andere Uni ausprobiert, aber die Atmosphäre an der katho ist total anders, hier wird man aufgefangen. Deswegen rate ich jedem, der Soziale Arbeit studieren möchte, es hier zu machen. Außerdem bietet Soziale Arbeit einen breiten Arbeitsbereich: Kinder, Frauen, Männer, Familien. Im Moment spiele ich zwei Rollen: Ich bin die ganze Woche Mitarbeiterin und am Freitag bin ich wieder Studentin. Da merke ich, dass ich gerne studiere, aber Arbeiten ebenfalls großen Spaß macht! Seit 2015 ist eine besondere Phase in meinem Leben, die nicht einfach ist. An vielen Stellen hatte ich wirklich Angst, dass der Prozess scheitert. Aber ich gebe nicht schnell auf. Es reicht nicht, wenn ich mich hier einfach bedanke – so tolle, nette Leute. Die katho ist einfach der positivste Punkt in meinem Leben seit 2015.
Thaer Al-Sayil studiert seit dem Wintersemester 2021/2022 im Bachelor Soziale Arbeit am Standort Paderborn der katho. Der 36-jährige Iraker ist seit sechs Jahren in Deutschland und hat bereits eine dreijährige Ausbildung zum Heilerziehungspfleger absolviert. Den Wunsch, sich beruflich weiter zu qualifizieren, erfüllte er sich durch die Aufnahme des Studiums.
Lara Dulige: Schildern Sie zu Beginn gerne Ihren persönlichen Bildungswerdegang.
Thaer Al-Sayil: Das Abitur habe ich in meinem Heimatland Irak gemacht. Vor sechs Jahren bin ich dann nach Deutschland gekommen, habe hier eine Ausbildung zum Heilerziehungspfleger gemacht und bin seit September 2021 als Student an der katho.
L.D.: Aus welchen Gründen haben Sie sich nach der Ausbildung für ein Studium der Sozialen Arbeit entschieden?
T.A.: Durch das Studium möchte ich mich weiter qualifizieren. Dass der Studiengang Soziale Arbeit passend ist, habe ich selbst für mich herausgefunden.
L.D.: Sie haben gesagt, dass Sie sich im Bereich Soziale Arbeit weiter qualifizieren möchten. Warum möchten Sie Sozialarbeiter werden?
T.A.: Erstmal möchte ich mein Wissen und meinen Wissenshorizont erweitern, mich weiter qualifizieren, damit ich nach dem Studium in einem anderen Bereich als dem der Ausbildung arbeiten kann. Mein Ziel ist es, verschiedene Bereiche kennenzulernen, wie Suchtberatung, Migrationshilfe, Unterstützung von Menschen mit Behinderung. Ich will mich nicht an eine feste Stelle oder einen bestimmten Bereich binden und mich nicht nur darauf fokussieren. Ich möchte später gerne in verschiedenen Stellen tätig sein. Mit dem Studium der Sozialen Arbeit kann ich mich in meinem späteren Berufs - leben sehr breit aufstellen.
L.D.: Wie haben Sie von dem Programm „NRWege ins Studium“ in Paderborn erfahren?
T.A.: Ich bin zufällig in diesem Programm gelandet. Ich habe mich nicht bewusst für dieses Projekt beworben.
L.D.: Können Sie Ihre bisherigen Erfahrungen mit dem Projekt schildern? Wie haben Sie die Unterstützung, z.B. durch den Fachkurs, durch die Hilfe durch Franca als wissenschaftlicher Hilfskraft oder durch meine Arbeit empfunden?
T.A.: Ich habe nur positive Erfahrungen durch die Unterstützung gemacht. Zunächst habe ich an einem Workshop der Hilfskraft in Münster teilgenommen, es ging um die Grundlagen der Sozialen Arbeit. Das war sehr interessant für mich. Danach gab es den Fachkurs als Vorbereitung für das Studium. Wir haben besprochen, wie man eine Hausarbeit schreibt, wie man eine Präsentation hält und vieles Weitere. Das war ebenfalls sehr hilfreich und interessant als Einstieg in das Studium. Franca ist sehr kooperativ und hat mich am Anfang mit der Erstellung des Stundenplans sehr unterstützt. Immer wenn ich Fragen habe, wende ich mich an Franca, die meine Fragen sofort beantworten kann.
L.D.: Sie haben bereits gesagt, dass Sie sich durch das Studium der Sozialen Arbeit breit aufstellen wollen. Haben Sie schon eine Ahnung, wo es nach dem Abschluss des Studiums hingehen soll?
T.A.: Wie gesagt, ich möchte und kann mich nicht auf einen Bereich festlegen. Ich möchte ‚Multikulti- Arbeit‘ leisten. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, in einer halben Stelle mit Menschen mit Behinderung, zehn Stunden in der Suchtberatung und den Rest in einer Schule zu arbeiten.
L.D.: Hat Ihnen die vorherige Ausbildung zum Heilerziehungspfleger für Ihr jetziges Studium geholfen?
T.A.: Natürlich. Die Grundlagen der Sozialwissenschaften und die Theorie der Sozialen Arbeit hatte ich bereits während der Ausbildung. Gerade die Module über die Theoretiker, wie Thiersch und Hurrelmann, kannte ich schon aus der Ausbildung.
L.D.: Hat Ihnen das Schulsystem der Ausbildung geholfen, sich jetzt besser im Studium zurecht zu finden? Viele, die aus dem Irak oder aus Syrien kommen, haben am Anfang Probleme mit dem deutschen Schulsystem, das sich sehr unterscheidet. Wie ging es Ihnen damit?
T.A.: Im Irak war ich Beamter und habe nebenher vier Jahre Jura studiert. Ich habe mich immer selbst unterstützt. Deshalb war es für mich nicht schwierig, mich hier zurecht zu finden. Bei mir war das eben etwas anders beziehungsweise weniger schwierig als bei anderen.
L.D.: Vielen Dank für Ihre Zeit und das Interview!
Youssef Shikh Sulaiman ist 30 Jahre, alt und stammt aus Syrien. Er nahm zum Wintersemester 2018/19 sein Bachelorstudium an der katho in Münster auf. Er ist Stipendiat der Evangelischen Stiftung Villigst und sehr engagiert in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen, der Demenzhilfe und der Flüchtlingshilfe.
Muriel Schiller: Guten Tag. Bitte stellen Sie sich kurz vor und erzählen Sie uns von Ihrem Bildungsweg von Ihrer Schule bis heute.
Youssef Shikh Sulaiman: Mein Name ist Youssef Shikh Sulaiman. Ich komme aus Syrien und habe dort Jura studiert, 6 Semester, aber leider nicht abgeschlossen. 2015 bin ich nach Deutschland gekommen und habe mich dann hier für Soziale Arbeit entschieden.
M.S.: Wie alt sind Sie?
Y.S.S.: Ich bin 30 Jahre alt.
M.S.: In welchem Semester sind Sie jetzt?
Y.S.S.: Ich bin im 7. Semester.
M.S.: Und warum haben Sie sich dann für Soziale Arbeit entschieden und nicht nochmal für Jura?
Y.S.S.: Ich habe am Anfang versucht mir meine Leistungen in Jura anerkennen zu lassen, weil ich mich tatsächlich weiter damit beschäftigen wollte, aber es gab da zwar Seiten – es hat eigentlich keinen Sinn für mich gemacht und es wäre auch nichts anerkannt worden. Durch mein freiwilliges Soziales Jahr ist mir bewusster geworden, was ich wirklich möchte, weil mir die Arbeit mit den Menschen sehr viel Spaß gemacht hat. Zum Glück habe ich mit einer Mitbewohnern gelebt, die an der katho studiert hat. Und so bin ich dann auf diesen Weg gekommen.
M.S.: Wunderbar. Wo genau haben Sie das Freiwillige Soziale Jahr gemacht?
Y.S.S.: Ich habe als Begleitung in einem Seniorenheim gearbeitet. Ich hatte dort zwar nur kleine Aufgaben, aber ich bekam einen großen Überblick über die Arbeit im Sozialen Bereich. Ich habe die Senioren in ihrem Alltag betreut. Später habe ich auch mit Menschen mit Demenz gearbeitet und in dieser Zeit habe ich dann angefangen an der katho zu studieren.
M.S.: Das ist sehr interessant, dass Sie die Demenzhilfe gewählt haben, das machen nicht viele. Zu Ihrem Studium – was waren große Herausforderungen für Sie?
Y.S.S.: Zunächst einmal Danke an den DAAD, dass sie uns auf das Studium vorbereitet haben mit dem Deutschkurs und dem Propädeutikum. Das finde ich sehr, sehr wichtig. Die Schwierigkeiten lagen einfach in der Integration in ein System – in ein deutsches Universitätssystem. Ich habe mich selbst nach drei Semestern nicht angekommen gefühlt. Die Sprache bleibt für mich persönlich immer noch eine Herausforderung, aber solange man sich ganz viel mit den wissenschaftlichen Texten beschäftigt, dann ist das zu schaffen. Für mich war es wirklich das Ankommen in einer Hochschule, sich wohlfühlen im Umgang mit meinen Kommilitonen und der ganzen Umgebung.
M.S.: Zum Beispiel Freundschaften aufbauen?
Y.S.S.: Ja, genau. Und ich habe einfach lange gebraucht, bis ich mich mit dem System ausgekannt habe.
M.S.: Was meinen Sie woran liegt das? Sind das einfach die Unterschiede zwischen Syrien und Deutschland oder gibt es noch andere Gründe?
Y.S.S.: Ja, es liegt auf jeden Fall an den Unterschieden. Aber ich finde das System hier mit den Modulen auch wirklich kompliziert. Dass man die Module 5 und 11 in verschiedenen Semestern besucht und dann zwei Semester später noch die Prüfung macht und Seminare dazu besucht… Das hatte ich einfach nicht alles auf dem Schirm. Durch die sprachlichen Schwierigkeiten und wenig Informationen durch Kommilitonen musste ich mich einfach stärker informieren. Wir haben uns auch oft getroffen, um uns auszutauschen – aber manchmal waren es Kleinigkeiten, mit denen ich mich nicht an euch wenden wollte. Es braucht Mut, vor ganz vielen Leuten auf einer anderen Sprache zu sprechen. Das ist auch ein bisschen schwierig. Man fühlt sich auch oft beobachtet, sag ich mal.
M.S.: Haben Sie jetzt das Gefühl, dass es besser geworden ist?
Y.S.S.: Für mich ist schon besser geworden. Ich möchte hier nicht zu persönlich erzählen, aber die Atmosphäre für mich ist angenehmer geworden. Ich bin angekommen, ja, und ich bin fast fertig (lacht)!
M.S.: Also hat es einfach Zeit gebraucht.
Y.S.S.: Ja… und diese Zeit war einfach schwierig.
M.S.: Und die Finanzierung des Studiums?
Y.S.S.: Die Finanzierung! Dies ist ein wichtiger Teil des Studiums. Am Anfang hatte ich kein BAföG. Ich wurde abgelehnt, weil ich in Syrien etwas Anderes studiert hatte. Ich habe sogar einen Anwalt eingeschaltet, aber es hat leider nicht funktioniert. Ich habe trotzdem angefangen zu studieren, mit 20 Stunden Arbeit. Beim Haus vom Guten Hirten. Dann bin ich durch Beratungen – vor allem durch euch – auf die Idee gekommen, mich für ein Stipendium zu bewerben. Ich habe mich bei vielen verschiedenen Stiftungen beworben und wurde dann aufgenommen bei dem Evangelischen Stipendienwerk Villigst. Ich bekomme jetzt seit Anfang 2019 das Stipendium und es war für mich eine große Erleichterung, dass ich nicht mehr so viel arbeiten musste, dass ich finanziert wurde und mich auf mein Studium konzentrieren konnte. Es war für mich eine Riesenhilfe, die auf einmal da ist. Es läuft auch immer noch bis zum Ende meines Studiums. Ich bekomme den BAföG-Satz plus die Studentenpauschale. Das sind ca. 1.000 Euro im Monat. Das ist ordentliches Geld zum Leben, plus einen Minijob.
M.S.: Was bedeutet Ihnen das Stipendium außer der Finanzierung? Lernen Sie auch andere Studierende kennen? Oder besuchen Sie Kurse?
Y.S.S.: Wir haben regelmäßige Treffen. Ich muss sagen, ich habe mehr Freunde bei den Stipendiaten als an der katho. Es gibt regelmäßige Treffen. Ich bin dort auch aktiv. Man muss dort auch Punkte sammeln für Aktivitäten und das mach ich auch mit.
M.S.: Es ist ja eine evangelische Stiftung – spielt diese Komponente eine große Rolle?
Y.S.S.: Ich glaube heutzutage sind das Namen, die schon lange hängen. Es ist evangelisch geprägt vom Glauben her, ja – aber man merkt es nicht mehr so. Aber wir haben auch ganz viele bunte Leute. Ich selbst bin Moslem, aber es spielt nicht mehr so eine große Rolle.
MS.: Es ist also sehr offen.
Y.S.S.: Ja, bei der Stiftung ist es sehr offen, wir haben viele verschiedene Religionen. Ich glaube Religion spielt keine Rolle. Spielt es die noch an der katho?
M.S.: Ich denke, wer möchte, kann dem Studium diese Richtung geben, aber man es muss nicht mehr.
Y.S.S.: Ja, so ist es da auch. Es gibt Gottesdienste, aber die sind freiwillig. Ich war sogar zweimal da, ich wollte die Atmosphäre kennenlernen und hören, was dort erzählt wird.
M.S.: Und war es interessant?
Y.S.S.: Ich denke, ich habe jetzt genug Informationen (lacht). Ich weiß jetzt, wie man betet.
M.S.: Jetzt würden wir zum Projekt kommen. Haben Sie Ideen wie man das Projekt noch verbessern kann?
Y.S.S.: Also das muss ich ehrlich sagen, die Studierenden hier an der katho sind sehr gut aufgehoben. Ich wurde hier ganz oft beraten. Sprachkursangebot, Propädeutikum und Buddyprogramm. Ich glaube besser geht es nicht mehr. Von dieser Seite her bin ich sehr gut aufgehoben. Ich kann überall dran teilnehmen. Sie waren einfach immer offen dafür, die Leute zu beraten. Auch Frau Ali-Aziz war immer erreichbar, um uns zu helfen. Ich glaube, besser geht´s nicht.
M.S.: (lacht) Vielen Dank.
Y.S.S.: Ich denke, es gibt hier viele Möglichkeiten sich weiter zu entwickeln und zu vernetzen, aber man muss die Möglichkeiten auch nutzen. Ich denke, ich habe vielleicht auch einiges verpasst, aber ich war woanders auch aktiv.
M.S.: Und zu dem Thema, dass der Kontakt zu anderen Kommiliton_innen manchmal schwierig ist – haben Sie dazu Ideen, wie man das verbessern könnte? Es gibt zum Beispiel an anderen Orten extra internationale Cafés oder auch Sportprogramme…
Y.S.S.: Super Idee! Ich war in der Mensa zum Beispiel nur, um meinen Kaffee zu holen. Es gibt hier ja auch interkulturelle Abende. Ich bin jetzt fast fertig… aber ich weiß nicht, ob es sich von der Mensa unterscheidet.
M.S.: Manchmal werden diese Ideen auch kritisiert, weil es die Vorurteile verhärten kann, wenn jeder bewusst mit „seiner Kultur“ eingeladen wird. Was meinen Sie?
Y.S.S.: Einfach versuchen und gucken, wer kommt, finde ich. Ich würde daran auch teilnehmen. Solche Angebote gab es kaum. Nur viele Angebote für uns als Studierende mit Fluchterfahrung. Außer den Buddys und das war super. Ich habe bis heute mit meinem Buddy ein bisschen Kontakt. Wir haben Wissen ausgetauscht, uns getroffen.
M.S.: Dann sind wir auch schon beim letzten Punkt – Zukunft: Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor, wenn Sie fertig mit dem Studium sind?
Y.S.S.: Ich studiere seit 10 Jahren, so insgesamt. Meine Motivation zu studieren hat sich ein bisschen verkleinert. Also sehe ich meine Zukunft so, dass ich, wenn ich fertig bin, arbeiten gehen möchte. Und vielleicht mache ich in zwei, drei Jahren noch ein Studium oder einen Master. Ich habe keine genaue Vorstellung, außer arbeiten. Im Moment arbeite ich mit Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung, die ihren Alltag nicht selbstständig bewältigen können. Ich denke ich bleibe in diesem Bereich und in zwei, drei Jahren würde ich gerne mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Auch in diesem Bereich oder auch mit Migrationshintergrund.
M.S.: Wie erleben Sie es in der Praxis, dass Sie geflüchtet sind? Gibt es da Vorteile oder auch Schwierigkeiten?
Y.S.S.: Ich habe tatsächlich keine Schwierigkeiten. Ich verständige mich sehr gut mit den Bewohnern und meinen Kollegen. Weil ich schon viel Arbeitserfahrung gesammelt habe, wie gesagt im Freiwilligen Sozialen Jahr und auch in einer stationären Einrichtung für Demenz und das hilft mir sehr. Es waren zwar verschiedene Bereiche, aber die Aufgaben ähneln sich. Sprachlich habe ich auch in der Praxis keine Schwierigkeiten, die sind im wissenschaftlichen Arbeiten stärker. Manchmal gibt es natürlich Vokabeln auf der Arbeit, die ich nicht kenne, aber dann frage ich meine Kollegen und die erklären mir das sofort. Aber das ist selten.
M.S.: Gibt es vielleicht sogar Vorteile?
Y.S.S.: Ja, natürlich. Meine ganze Erfahrung kann ich sammeln und für andere Sachen sammeln. Das finde ich wichtig und da möchte ich mich weiter mit psychischen Erkrankungen beschäftigen.
M.S.: Erleben Sie manchmal Rassismus?
Y.S.S.: Doch, ich erlebe Rassismus, ganz klar. Manchmal ganz offen gesagt, manchmal kommt er als Witz. Aber: Ich erlebe es zwar, aber ich reagiere mit Humor und mache die Situation lustiger. Manchmal funktioniert es, manchmal nicht.
M.S.: Aber es hindert Sie nicht in Ihrer Arbeit?
Y.S.S.: Nein, weil ich es nicht persönlich nehme. Es erleben tausende Menschen jeden Tag.
M.S.: Ich fürchte auch.
Y.S.S.: Wenn Humor nicht hilft, verlasse ich den Raum und nach 2 Minuten ist alles wieder gut.
M.S.: Ich denke, nicht alle können mit diesen Erfahrungen so umgehen. Man entwickelt vielleicht so eine Technik.
Y.S.S.: Manche Situationen können mich auch ärgern, aber es kommt darauf an, wo ich bin. Für mich ist auch nicht alles akzeptabel und lustig.
M.S.: Die letzte Frage: Was würden Sie neuen Studierenden an der katho raten?
Y.S.S.: Ich würde Ihnen raten, sich wirklich mit dem wissenschaftlichen Arbeite gut zu beschäftigen – lesen, sprachlich sich zu entwickeln. Sich versuchen hier zu vernetzen, vielleicht besser als wir es gemacht haben. Vielleicht sind sie da erfolgreicher. Und nicht den gleichen Fehler wie ich zu machen, ich war eine Weile orientierungslos. So hat sich mein Studium verzögert. Auch 7 oder 8 Semester zu studieren würde ich empfehlen, das ist kein Problem. Ich finde das für internationale Studierende vollkommen okay, weil das Lernen einfach seine Zeit braucht. Ansonsten würde ich den Neuen einfach viel Erfolg wünschen!
M.S.: Viele haben ja doch auch Angst und Zweifel.
Y.S.S.: Das kann ich mir gut vorstellen, es macht Angst etwas Neues anzufangen, aber ich würde es einfach empfehlen, den Mut aufzubringen. Keiner frisst dich hier! Ich kann mir vorstellen, auch die einheimischen Studierenden haben Angst. Die sollen einfach mitmachen, dann klappt es schon. Ich hatte die Angst am Anfang, aber man bewältigt sie mit der Zeit. Aber es ist nachvollziehbar!
M.S.: Möchten Sie noch etwas sagen?
Y.S.S.: Ich habe gestern in den Nachrichten gelesen, dass Frau Merkel gesagt hat „Wir haben es geschafft!“ Nach dieser Krise…was heißt Krise…
M.S.: Nach 2015/16
Y.S.S.: Ja, genau. Da hat sie gesagt, dass wir das schaffen und heute hat sie gesagt „Wir haben es geschafft!“ Ich wurde gestern gefragt, ob ich das auch finde. Ich finde, sie hat recht. Sie hat es wirklich geschafft. Ich erlebe jeden Tag ganz viele erfolgreiche Geschichten von neuen Migranten, die erst 2015 gekommen sind. Ich zähle auch dazu. Und ich finde, Sie auch. Sie sind auch in Verbindung mit ganz vielen Studierenden, die ihr Leben neugestaltet haben und Fuß gefasst haben. Und ich denke, Sie erleben noch andere Geschichten als ich. Ich eher in der Arbeit, an den Schulen. Wir wollen das Deutschland zurückgeben durch unsere Arbeit im sozialen Bereich. Also, so möchte ich das beenden.
M.S.: Vielen Dank für diese positive Perspektive! Ich persönlich erlebe Beides – sehr erfolgreiche, inspirierende Geschichten und Geschichten, wo die Menschen scheitern. Das kann natürlich immer und überall passieren, es ist menschlich. Wenn dies passiert, aufgrund von bürokratischen Hürden und nicht wegen persönlicher Umstände, dann finde ich das sehr schlimm und dann glaube ich manchmal nicht, dass wir es geschafft haben.
Y.S.S.: Sie haben vergessen, mich nach meinem Engagement zu fragen!
M.S.: Das stimmt. Bitteschön…
Y.S.S.: Also, ich engagiere mich in einem Flüchtlingsheim und helfe Menschen, die auch Fluchterfahrung haben, wie ich. Die, die auch Schwierigkeiten mit der Bürokratie haben, mit der Sprache. Ich erledige den Öffentlichkeitsbereich. Die Formulare, Krankenversicherung, Verträge, Terminbegleitung Außerdem bin ich Mitglied einer Gruppe von syrischen Studierenden, die in Deutschland Soziale Arbeit studieren. Wir sind ungefähr 300. Wir treffen uns regelmäßig online um uns auszutauschen.
M.S.: Das ist ja spannend.
Y.S.S.: Ja, sehr spannend. Ich leite diese Gruppe und vereinbare diese Termine, damit wir in den Austausch kommen. Es war schwierig, weil jede Uni ihr eigenes System hat… Berlin, Leipzig… Deswegen ist das innere System sehr unterschiedlich, aber der Austausch ist sehr interessant.
M.S.: Sind die Leute glücklich? Oder wie ist so das Bild?
Y.S.S.: Ich erlebe oft, dass die Leute viele Ängste haben – vor der Sprache, vor einer Gruppe zu stehen. Ich versuche, ihnen viel Mut zu geben und sie zu unterstützen. Und ich überlege ganz oft, dass wir später etwas gemeinsam gründen sollten. So viele Sozialarbeiter in einem Griff zu haben, ist eine coole Sache.
M.S.: Auch für die Praxis kann ich mir vorstellen, dass da tolle Sachen durch solch ein Netzwerk entstehen können.
Y.S.S.: Ja und es macht auch Spaß, die anderen Unis kennenzulernen.
M.S.: Haben alle ähnliche Probleme?
Y.S.S.: Ja, auf jeden Fall. Es nehmen nicht immer alle teil, aber bei jedem Treffen sind 20 bis 25 Leute. Die Gruppe ist semesterübergreifend und durch Instagram entstanden. Generell helfe ich gerne und viel bei Übersetzungen oder Begleitungen.
M.S.: Ja, vielen Dank für das Interview und dass Sie mitgemacht haben! Sitzen Sie eigentlich schon an Ihrer Bachelorarbeit?
Y.S.S.: Nein, noch nicht. Ich muss noch drei Module abschließen. Ich möchte mich nicht stressen, sondern es in meinem Tempo machen. Ich habe privat schon genug zu tun. Ich finde das okay.
M.S.: Ja, auf jeden Fall. Ich denke, es ist wichtig immer etwas zu machen, selbst wenn es nur ein bisschen, eine Prüfung, ist, weil das „wieder anfangen“ so schwer ist, aber ansonsten ist alles okay. Sie werden so oder so noch sehr lange arbeiten müssen (lacht).
Y.S.S.: Ich bin jetzt im 7. Semester – Regelstudienzeit ist sowieso vorbei (lacht).
Die Interviews wurden geführt von den Koordinatorinnen der Förderprogramme in Aachen, Köln, Münster und Paderborn. Vier der insgesamt acht Gespräche wurden aufgenommen in die Broschüre "NRWege ins Studium - Sechs Jahre Integra und Welcome an der katho".