Schuld und Verantwortung: Forum an der Piusallee im Zeichen des Krieges in der Ukraine
Am Dienstag, den 12. April, fand nach zwei Jahren pandemiebedingter Pause endlich wieder eine Veranstaltung aus der Reihe „Forum an der Piusallee“ in Präsenz statt. Neben den gut 100 anwesenden Gästen im Hörsaal nutzten knapp 70 weitere Personen die Möglichkeit der digitalen Zuschaltung.
Das große Interesse an der Veranstaltung war dabei sicher der Aktualität des Themas geschuldet: Dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Zu Gast war dazu Prof. Dr. Georg Albers, Politikwissenschafter, Sozialpädagoge und Lehrender an der katho in Münster. Von 2016 bis 2019 war er in der Ukraine als „Dialogue Faciliation Officer“ im Rahmen einer OSZE-Mission tätig und kennt daher die Hintergründe des aktuellen Kriegsgeschehens aus erster Hand.
Nach der Begrüßung und Einleitung durch das Moderator_innenteam, bestehend aus Prof. Dr. Ursula Tölle und Prof. Dr. Sebastian Laukötter, präsentierte Albers seine Sicht auf die aktuelle Lage. Der möglicherweise bestehenden Hoffnung auf Eindeutigkeiten erteilte er gleich zu Beginn eine Absage: „Ich möchte nicht dafür sorgen, dass wir hier einen sicheren Stand haben – ich möchte das Gegenteil tun.“ In der Folge strukturierte Albers seinen gut anderthalbstündigen Vortrag entlang von drei zentralen Thesen, die dazu einladen sollten, interessiert-differenziert auf den Krieg in der Ukraine zu blicken. Dieser, so Albers, kam aus seiner Sicht alles andere als überraschend. Lediglich, dass Putin offenbar zunächst auch eine Eroberung Kiews anstrebte, sah der Osteuropa-Experte so nicht kommen. Ansonsten verwies er hier aber auch darauf, dass de facto seit 2014 in der Ukraine eine kriegerische Auseinandersetzung an verschiedenen Frontlinien, insbesondere im östlichen Teil des Landes stattgefunden hat.
Unter Zuhilfenahme des theoretischen Modells der Konflikteskalation nach Friedrich Glasl zeichnete Albers nach, an welcher Stelle wir uns hier aktuell befinden. Entsprechend dieses Stufenmodells befände man sich nun in einem Stadium, auf dem es nur noch Verlierer gibt ("lose-lose") und eine weitere Eskalation Richtung „gemeinsam in den Abgrund“ immer wahrscheinlicher wird.
Die Schuldfrage bezüglich der aktuellen Situation lässt sich sehr schnell klären: Sie liegt vollständig beim Kreml. Die Frage der Verantwortung, wie es soweit kommen konnte, ist gleichwohl nicht so einfach zu beantworten und erfordert komplexere Analysen, die teilweise weit in die Vergangenheit reichen. Georg Albers beleuchtete hierzu u.a. das Protokoll von Minsk (2014) und zeigte, wie viele der zentralen Punkte der damaligen Vereinbarung von beiden Konfliktparteien nicht eingehalten wurden und – der Logik des Konfliktes entsprechend – auch gar nicht eingehalten werden konnten. Kritisch blickte Albers aber auch grundsätzlich auf die Entwicklungen des Ost-West-Verhältnis seit dem Ende des Kalten Krieges vor gut 30 Jahren. Die Nato-Osterweiterung muss hier als Schlüssel verstanden werden, der faktisch konfliktverschärfend gewirkt hat. Eindrücklich zeigte er die unterschiedlichen Lesarten und Narrative, die hier auf der jeweiligen Seite seitdem reproduziert werden.
Für Albers entspricht der Krieg in der Ukraine geradezu einem Lehrbeispiel der „Great Power Politics“. So handelt Putin aus seiner eigenen Perspektive alles andere als irrational, wie es ihm von so manchem Beobachter im Westen dieser Tage vorgeworfen wird. Der Angriff auf die Ukraine erscheint vielmehr als konsequente Fortsetzung auf Basis der an anderen Stellen vom Kremlchef seit Jahren vorangetriebenen Entwicklungen: Der nahezu vollständigen Unterdrückung jeglicher innenpolitischer Opposition, begleitet von einer massiven militärischen Aufrüstung. Sogar die russische Kriegsbeteiligung in Syrien erfüllte laut Albers einen vorbereitenden Zweck für den nun begonnenen Angriffskrieg: Viele russische Soldaten hätten in anderen bewaffneten Auseinandersetzungen gezielt Kriegserfahrung gesammelt und gehen nun als kampf- und waffenerprobt in den Krieg mit der Ukraine.
Aber wie sehen nun die Perspektiven aus – und gibt es überhaupt einen Ausweg aus dem aktuellen Geschehen? Eine Schlüsselrolle spielt dabei natürlich die Aufnahme von Verhandlung und Dialog. Letzterer setzt aber auch die Bereitschaft von beiden Seiten voraus, einander zuzuhören. Davon sei man aber aktuell weit entfernt – was mit Blick auf den russischen Angriff auch kaum verwundert. „Ich glaube, wir dürfen einfach nicht aufhören zu verhandeln“, so Albers, der befürchtet, dass wir uns perspektivisch auf eine Blocksituation wie in den 1980er-Jahren zubewegen.
Trotzdem skizziert der Experte schließlich einen möglichen Ausstieg: Eine bewaffnete Peace-Keeping Mission mit robustem Mandat der Vereinten Nationen. Mit Blick auf die Notwendigkeit, dass diese Mission eben auch bewaffnet sein muss um Erfolg haben zu können, räumt Albers ein: „Es tut mir fast leid, mich das selber sagen zu hören“ – aber anders würde es wohl nicht gehen.
Nach Ende des Vortrages beantwortete Georg Albers noch Fragen aus dem Publikum vor Ort und zu Hause vor den Bildschirmen. Dabei ging es u.a. auch um die Frage, welche Bedeutung die aktuellen Ereignisse auch mit Blick auf die Soziale Arbeit in Deutschland haben. In seiner Antwort verwies Albers dabei auf die in unserer Gesellschaft vorhandenen Doppelstandards – z. B. wenn es um den Umgang mit Geflüchteten geht – und wie unterschiedlich hier teilweise die Hilfs- und Aufnahmebereitschaft gegenüber Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine einerseits und Syrien während der Flüchtlingskrise 2015/2016 andererseits wahrgenommen werden kann. Soziale Arbeit habe hier einen Auftrag zur Sensibilisierung und Reflexion.
Zum Abschluss der Veranstaltung entließ Co-Gastgeber Sebastian Laukötter die Zuhörer_innen mit einem Zitat von Jo Schück, welches – bei aller Ungewissheit, wie es in der Ukraine weitergeht – auch einen kleinen Raum für Hoffnung lassen möchte: „Wir müssen alles erwarten. Auch das Gute.“
Text: Johannes Nathschläger
Fotos: Felix Nuss