„Suchtpolitisches Versagen“: Studierende analysieren EM-Viertelfinalspiel
Anstatt auf der Fanmeile kamen die Studierenden des Master-Studiengangs Suchttherapie zum Deutschlandspiel am Freitagabend im Seminarraum der katho zusammen. Gemeinsam analysierten sie eine oft übersehene Problematik bei Fußballübertragungen: Suchtmittelwerbung. Die Studierenden, die begleitend zu ihrem Studium in Einrichtungen der Suchthilfe bereits als Sozialarbeiter_innen tätig sind, dokumentierten im Fünf-Minuten-Takt die Werbeeinblendungen für Alkohol und Glücksspiele in Werbespots und Fußballplatzbanden. Denn neben der Biermarke Bitburger ist auch der Sportwettenanbieter Betano offizieller Sponsor der Fußball-EM. In der Analyse zeigte sich, dass Alkoholwerbung in unmittelbarer Nähe zu den Spielpausen wie Halbzeitpause, Abpfiff der regulären Spielzeit, Halbzeit der Verlängerung und Gesamtabpfiff gezeigt wurde. Außerdem gab es ab der 20. Spielminute nur noch drei fünfminütige Zeitfenster, in denen kein Werbebanner für Glücksspiele eingeblendet wurde.
Platzierung von Bierwerbung nach Uefa-Slogan ist alarmierend
Frischknecht, der gemeinsam mit Sebastian Müller (Leiter der Suchtambulanz der Caritas München und Oberbayern) die Auswertung begleitete, spricht angesichts der Ergebnisse von einem suchtpolitischen Versagen: „Durch Alkoholkonsum in Deutschland entstehen den Krankenkassen und indirekt der Volkswirtschaft jährlich 60 Milliarden Euro Kosten – ganz zu schweigen von dem persönlichen Leid, das durch den Alkoholkonsum in den Familien entsteht.“ Für ihn ist unverständlich, weshalb die Bitburger-Brauerei direkt im Anschluss an den Uefa-Slogan „Because Every Child Is A Champion“ Werbung für ihr Bier machen darf. Auch ein seit Jahren von Bundesdrogenbeauftragtem Burkhardt Blienert und anderen Politiker_innen gefordertes Werbeverbot blieb bisher aus.
Alarmierend findet Frischknecht auch die Positionierung der Alkoholwerbung im Spielverlauf – immer vor den Abpfiffen mit Pausencharakter. Aus Sicht des Suchtforschers werbepsychologisch der beste Sendeplatz für Bierwerbung – nicht nur, weil genug Zeit ist, sich ein Bier zu holen, sondern auch, weil mit den Abpfiffen die Anspannung während eines Fußballspiels nachlässt und sich der Alkoholkonsum direkt mit der Entspannungswirkung ‚ankonditionieren‘ lässt. Frischknecht: „Es würde mich sehr wundern, wenn die Werbepsycholog_innen diesen Sendeplatz nicht absichtlich ausgesucht hätten.“
„Abhängige Menschen sind die besten Kunden“
Auch von der Häufigkeit der Glücksspiel-Werbung zeigten sich Müller und Frischknecht überrascht: Beide hätten weitaus mehr Alkoholwerbung und weniger Glücksspielwerbung erwartet. „Hieran zeigt sich, dass die Politik lieber Lobby-Interessen vertritt als das Wohl von Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen“, so das Fazit des Suchtforschers. Bereits seit Jahrzehnten wirke die Glücksspielindustrie in die Gesetzgebung hinein. Im Glücksspielstaatsvertrag steht, dass Glücksspiel zur Befriedigung des natürlichen Spieltriebs benötigt wird. „Natürlich hat der Mensch einen natürlichen Spieltrieb, aber Glücksspiele haben in diesem Zusammenhang nichts verloren“, findet Frischknecht. Denn anders als beim Fußball, bei dem man mit seinen Mitspieler_innen gegen andere Teams im Wettkampf stehen will, Erfolge feiern und Verluste in der Gemeinschaft verarbeiten will, entstünde durch Glücksspiele ein Abhängigkeitspotenzial – insbesondere durch von der Glücksspiel-Industrie „hochgezüchteten Spiele, die menschliche Bedürfnisse gesundheitsschädlich ausnutzen, denn abhängige Menschen sind die besten Kunden“.
Auf ihre Arbeit übertragen entwickelten die Studierenden im Anschluss an das Spiel die Idee, eine solche Analyse-Übung mit ihren Patient_innen durchzuführen. Damit könnte ihnen bewusster werden, an wie vielen Stellen sie von der Suchtmittelindustrie unbewusst beeinflusst werden. „Dies könnte Suchterkrankten auf ihrem Weg der Abstinenz helfen, wachsamer durch die Welt zu gehen und Schuldzuweisungen besser zu verarbeiten – denn dass Alkohol und Glücksspiele überall so angepriesen werden, ist nicht ihre Schuld“, fasst Frischknecht zusammen.
Weitere Infos
Kontakt für inhaltliche Fragen
Prof. Dr. Ulrich Frischknecht
Prodekan / Professur für Sucht und Persönlichkeitspsychologie
R306, Sozialwesen
Pressekontakt
Katja Brittig
Referentin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Köln, Dezernat VI - Akademische Angelegenheiten