„Also es ist immer so gespalten.“
Unter dem Titel „Was wirkt aus wessen Perspektive? – Aktuelle Forschungen zu Folgen sozialer Hilfen“ lud das DFG-Graduiertenkolleg „Folgen sozialer Hilfen“ am 7. und 8. September 2023 an die Universität Siegen ein. An den zwei Tagen wurden in verschiedenen Keynotes und Panels Spannungsfelder in Hilfen, Fragen der (Re-)Konstruktion von Adressat:innensichtweisen, die Bedeutung von Erhebungs- und Hilfekontext in der Erforschung von Folgen und Wirkungen und method(olog)ische Zugänge zu Perspektivenpluralität erörtert.
Prof.in Dr.in Judith Haase vom Standort Münster stellte in ihrem Beitrag „Kinderschutz und Biographie“ das Erleben und die biographische Verarbeitung von Schutzmaßnahmen aus der Perspektive von heute erwachsenen Menschen vor, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend Adressat_innen von Kinderschutzmaßnahmen waren. Auf der Basis von narrativen Interviews mit den heute zwischen 18 und 42 Jahre alten Menschen wurden sowohl die sozialpädagogische Relevanz staatlichen Schutzhandelns als auch die Bildungsbedeutsamkeit der Maßnahmen untersucht. Die Befunde verweisen darauf, dass Kinder und Jugendliche Schutzprozesse dann positiv konnotieren, wenn sie nachhaltig wirksam waren: Wenn sie also zu einem langfristigen Schutz und einer spürbaren Verbesserung ihres Lebensalltages beitragen konnten. Nicht alle Interviewten machen die Erfahrung, dass die erfahrenen Prozesse Gefährdungsmomente abwenden und langfristige Hilfe bieten konnten. Für andere dagegen stellen die Kinderschutzerfahrungen zentrale Meilensteine oder sogar Wendepunkte in ihrer Lebensgeschichte dar. Zudem differenzieren die Interviewten nicht zwischen Institutionen und Organisationen, deren Aufträgen und Selbstverständnissen. Stattdessen sind für sie exklusive Beziehungen mit den Erfahrungen, (aus-)gehalten zu werden, mitwirken zu können, begrenzt zu werden und Zufluchten essenziell. Hilfeverläufe und Schutzprozesse und hierin Bindungs- und Beziehungsaufbau benötigen umfassende zeitliche Ressourcen – Begrenzung durch externe Stellen und Prozesse werden als schädlich beschrieben. Je länger Hilfe- und Schutzmaßnahmen laufen, desto eher werden sie als hilfreich und schützend erlebt. Schließlich kann Kinderschutz als Erzielungsbereich von (Selbst-) Bildungsprozessen wirken, kann Bildungsort eigener Qualität sein: Über gelingende und positive Kinderschutzprozesse können Transformationen bisheriger Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse ausgelöst werden, die als Lernprozesse höherer Ordnung und damit als Bildungsprozesse zu verstehen sind. Ende des Jahres werden die Ergebnisse dieser Teilstudie zusammen mit den Ergebnissen aller anderen Teilstudien des Projektes in einem Sammelband veröffentlicht.
Weitere Beiträge befassten sich mit Spannungsfeldern in sozialen Hilfen, Forschung mit Adressat_innen, der Bedeutung von institutionellen Rahmungen und Forschungskontexten sowie Multiperspektivität, method(olog)ischen Zugängen und Erkenntnisgewinn. Insgesamt war es eine runde Tagung, die die Komplexität der Betrachtung von Folgen sozialer Hilfen ins Zentrum rückte. Die interdisziplinäre Ausrichtung leistete einen großen Beitrag dazu, Erkenntnisse darüber auszuweiten, was in spezifischen sozialen Hilfen aus wessen Perspektive wirkt.
Text: Prof.in Dr.in Judith Haase
Prof. Dr. Judith Haase
Beauftragte für den Bereich Praxis & Supervision (Soz. Arbeit)
Münster, Sozialwesen