Deutschland-Premiere beim Kontaktseminar Option für die Armen in Münster: „Fair Play? Nach welchen Regeln wollen wir spielen?“
„Mensch ärgere Dich nicht“ – wer kennt es nicht! Bei diesem Spiele-Klassiker starten alle von der gleichen Stelle aus. Ab da entscheidet das Würfelglück. Nicht so bei dem Brettspiel „Fair Play? Nach welchen Regeln wollen wir spielen?“ des Bildungsprojekts „arMUT begegnen“ der Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis in Wien. In deren Auftrag hat die österreichische Sozialarbeiterin Kristina Hafner ein Gesellschaftsspiel entwickelt, das Armut und die damit in Zusammenhang stehende Chancenungleichheit thematisiert. Bevor das Würfeln beginnt, erfahren die Spieler*innen durch das Ziehen von Karten, in welcher familiären und sozio-ökonomischen Ausgangssituation sie sich befinden. Daraus ergibt sich, ob sie auf dem Spielfeld „MINUS-Startende“ oder „PLUS-Startende“ sind. Wird dann gewürfelt, kommen bei den verschiedenen „Ereigniskarten“ die PLUS- und MINUS-Startenden unterschiedlich voran, weil z.B. der Ersatz eines kaputten Handys für „Reiche“ ein geringeres Problem darstellt als für „Arme“.
„Fair Play?“ ist ein pädagogisches Spiel für zwei bis fünf Personen ab 14 Jahren. Es ist geeignet für Workshops zum Thema Armut für pädagogische und sozialarbeiterische Fachkräfte, aber auch für schulische und außerschulische Jugendarbeit, politische Bildungsarbeit in Gemeinden, Verbänden und weiteren Gruppen.
Erfahrungen und Tipps von Teilnehmenden des 34. Kontaktseminars Option für die Armen
Im Rahmen des 34. Kontaktseminars Option für die Armen an der katho am Standort Münster haben Schwester Sieglinde Ruthner, Mitglied der Caritas Socialis, einer geistlichen Gemeinschaft von Frauen in der katholischen Kirche, und Sozialarbeiterin Kristina Hafner am 6. Februar 2024 erstmals das Spiel in Deutschland vorgestellt. Die 45 Teilnehmenden des Seminars – Ordensleute, Fachkräfte aus sozialen und pastoralen Handlungsfeldern und Studierende der katho – haben das Spiel ausprobiert und reflektiert. „Ja, das Spiel macht was mit einem“, war der Haupttenor. Denn es geht auch um ein Rollenspiel und nicht nur um „Würfelglück“. Sich in diese Rollen hineinzuversetzen und sich dafür als ganze Gruppe ausreichend Zeit zu nehmen, war für viele die wichtigste Erfahrung. Zum Beispiel für Schwester Renate Basler aus Tutzing: „Mein Tipp nach der Erfahrung des Spiels heißt: Nach dem Ziehen der ‚Familienkarten‘ sich selber in die Situation einfühlen und sie der Gruppe vorstellen – in Ruhe, damit alle sich in jede*n Teilnehmer*in einfühlen können. Dafür ausführlich Zeit lassen! Und nach dem Spiel Raum lassen, dass alle reihum erzählen, wie es ihnen ging.“ Dean Loy, Sozialarbeiter bei einer Beratungsstelle für von Armut betroffene Familien in Münster, hat als Tipp für weitere Spielergruppen: „Nehmt euch Zeit, über aufkommende Gefühle zu sprechen. Auch kleine Launen, Langeweile, Neid, Freude usw. Es lohnt sich, genau darauf zu schauen. Und: Nehmt euch Zeit, zu schauen, welche Auswirkungen die Karten für alle haben, nicht nur für die Person, die sie zieht.“ Anna Isenberg, Sozialarbeiterin beim Caritasverband für die Stadt Essen, hat diese Erfahrung gemacht: „Während des Spiels kann aus der Gruppe der Impuls kommen, die Spielregeln zu verändern, weil die Ereigniskarten als ungerecht erlebt werden und die Spielfreude bei allen getrübt wird. Beim nochmaligen Spielen kann ich mir vorstellen, diesem Impuls Raum zu geben.“
Warum Armutssensibilität wichtig ist
Für Kristina Hafner ist zentral, dass Kinderarmut nicht ohne Folgen bleibt: „Die materiellen Einschränkungen wirken sich auf alle Lebensbereiche aus: die Wohnsituation, den Gesundheitsstatus, auf Bildungs- und Berufserfolge und natürlich auf die gesellschaftliche Teilhabe.“ Sie will mit dem Spiel dazu beitragen, für Armut und insbesondere für Kinderarmut zu sensibilisieren. Denn „Armut beschämt und Beschämung entmutigt. Wer sich schämt wird unsichtbar“, so Hafner in ihren Ausführungen zu dem Caritas-Socialis-Projekt „arMUT begegnen“.
Die Schwesterngemeinschaft CS Caritas Socialis wurde 1919 von Hildegard Burjan (1883 – 1933) in Wien gegründet mit dem Auftrag, soziale Not zu lindern. Burjan selbst war verheiratet und nach dem 1. Weltkrieg die erste weibliche Abgeordnete der Christlich-Sozialen Partei in der Österreichischen Nationalversammlung. Die Rechte von Frauen und Kindern waren für sie zentrale Anliegen.
Bildung – Empowerment – Teilhabe
Das 34. Kontaktseminar Option für die Armen vom 5. bis 9. Februar 2024 an der katho in Münster stand unter dem Motto „Bildung – Empowerment – Teilhabe“ und befasste sich außer dem Bildungsprojekt „arMUT begegnen“ noch mit weiteren Themen. So schauten die Teilnehmenden anhand von Impulsen durch Professorin Andrea Tafferner auf die eigene Bildungsbiografie und auf biblische „Bildungsgeschichten“ („Sind etwa auch wir blind?“ Joh 9,40). Judith Sellmeyer, Heilpädagogin M.A. und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der katho, stellte Möglichkeiten kommunikativer Teilhabe durch Leichte Sprache und Einfache Sprache vor. Medya Mustafa, in Syrien noch Lehrerin für Philosophie, jetzt Sozialarbeiterin bei der Beratungsstelle Europa.Brücke.Münster, warb eindringlich für Verständnis und Geduld bei Menschen, die über keine oder nur geringe Deutschkenntnisse verfügen. Was oft übersehen wird: Viele seien aufgrund ihrer Lebens- und Armutssituation gar nicht in der Lage, Deutschkurse zu besuchen. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Empowerment-Ansatz forderte Lilo Dorschky von der Evangelischen Hochschule Dresden auf – u.a. aufgrund von Erfahrungen mit der Pegida-Bewegung in Dresden. Bernd Mülbrecht, Sozialarbeiter und gemeinsam mit Andrea Tafferner Leiter des Kontaktseminars, informierte zu „Anforderungen an eine moderne Hilfe für Menschen in Wohnungsnotlagen“ am Beispiel der Stadt Münster und gab einen Ausblick auf neue, notwendige Projekte in der Wohnungslosenhilfe. Wie immer gab es Besuche vor Ort, darunter erstmals eine Stadtführung durch eine von Armut betroffene Frau, sowie Gespräche im Haus der Wohnungslosenhilfe und beim „Treff im Turm (der Überwasserkirche)“. Eine Gruppe unternahm einen Rundgang im Münsteraner Paulus-Dom und sprach mit Elisabeth Lange und Mario Schröer von der Arbeitsstelle „Dompädagogik“ über Angebote in Einfacher Sprache. Die Option für die Armen hat viele Facetten!
Text: Prof.in Dr. Andrea Tafferner
Fotos: Birte Kruse, Marion Nettels, Andrea Tafferner
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Prof. Dr. Andrea Tafferner
Prodekanin / Professorin für Theologie, Sozialphilosophie; Prodekanin
Münster, Sozialwesen