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„Wir sind wütend über die Gewalt, die Menschen aufgrund ihres Geschlechts erfahren“

Katharina Vorberg, Absolventin des Klinisch-therapeutischen Masterstudiengangs und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Standort Aachen, hat im Jahr 2020 gemeinsam mit Kolleg_innen – darunter katho-Absolvent_innen – den Verein ira e.V. als Anlauf- und Beratungsstelle für Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt in der StädteRegion Aachen gegründet. Im Interview berichtet sie von ihren Beweggründen und ihrer aktuellen Arbeit.

ira e.V. ist ein sehr junger Verein. Wie war der Weg von der Idee bis zur Umsetzung?

Katharina Vorberg: „Den gemeinnützigen Verein ira e.V. gibt es seit März 2020. Wir sind eine Anlauf- und Beratungsstelle für Personen, die von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen oder bedroht sind. Zu unserer Zielgruppe gehören insbesondere Betroffene von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung, von weiblicher Genitalverstümmelung und -beschneidung, von Zwangsverheiratung und Gewalt im Rahmen von Sexarbeit. Die meisten der Gründungsmitglieder waren zuvor bereits in anderen (Fach-)Beratungsstellen für Betroffene von Menschenhandel und Zwangsprostitution oder in der Beratung von Menschen mit Flucht- oder Migrationsbiografie tätig.

Die Idee, die hinter ira e.V. steht, ist, dass wir in der Beratung zunehmend festgestellt haben, dass die ‚klassische‘ Komm-Struktur einer Beratungsstelle in der heutigen Zeit nicht mehr ausreichend ist, um einen Zugang zu unserer potenziellen Zielgruppe zu bekommen: Wir müssen dorthin gehen, wo die Menschen sind. Nicht erst seit der Corona-Pandemie spielt sich die Lebensrealität von Menschen vermehrt im digitalen Raum ab, sodass wir Angebote der Sozialen Arbeit dorthin bringen müssen. Aus der Herausforderung, über den digitalen Raum einen Zugang herzustellen und unsere Angebote dort zu platzieren, entstand die Idee, einen eigenen Verein zu gründen – auch weil es ein solches Angebot für unsere Zielgruppe in der StädteRegion Aachen nicht gab.“
 

Wie kam es zum Namen ira e.V.?

„Ira ist sowohl ein männlicher als auch ein weiblicher internationaler Vorname. Da wir ein inklusives Angebot für alle Geschlechter, Nationalitäten und Religionen bereitstellen, war es uns wichtig, dass wir mit dem gewählten Namen unseres Vereins möglichst niemanden ausschließen. Ira bedeutet im Lateinischen ‚Wut‘ oder ‚Zorn‘ – wir sind wütend über die Ungleichheiten, Diskriminierungen und die Gewalt, die Menschen aufgrund ihres Geschlechts erfahren müssen. Diese Energie wollen wir bündeln und in die Angebote von ira e.V. stecken.“
 

Was unterscheidet Eure Beratung von der herkömmlichen Beratungsstelle vor Ort?

„Unsere Arbeit zeichnet sich durch einen hohen Grad an Mobilität und Niedrigschwelligkeit aus. Wir arbeiten unter der Leitlinie, dorthin zu gehen, wo die potenziellen Klient_innen sind. Das heißt, wir fahren in Unterkünfte für geflüchtete Menschen, wir machen Streetwork in Bordellen, wir treffen uns an vereinbarten Orten oder begegnen den Menschen im digitalen Raum über unsere digitale Streetwork. Wir beraten sowohl online als auch in Präsenz oder telefonisch – das Angebot richtet sich ganz nach dem Bedarf der Klient_innen.

Online-Beratungsangebote spielen für unsere Zielgruppe aber aufgrund der möglichen Anonymität eine herausragende Rolle. Viele Themen sind schambehaftet, tabuisiert oder Personen haben Ängste, sich zu offenbaren. In der Chat- und Mailberatung können sie sich einfach einen Nickname auswählen. Sie müssen keine persönlichen Daten von sich preisgeben und haben die Kontrolle über die Beratungsinhalte. Wenn es für sie nicht mehr passt, können sie beispielsweise den Chatraum einfach verlassen. Diese maximale Steuerungsmöglichkeit führt dazu, dass sich Menschen professionelle Unterstützung suchen und sich den professionellen Fachkräften gegenüber öffnen können, was sie womöglich bei einer regional ansässigen Beratungsstelle nicht getan hätten.“
 

Wie sieht eine klassische Online-Beratung aus?

„Wir bieten unterschiedliche Online-Beratungsformen an: per Chat, E-Mail oder Video. So finden beispielsweise zwei bis drei Mal in der Woche offene Chat-Sprechstunden zu unterschiedlichen Zeiten, auch abends oder nachts, über unsere Website statt, teilweise auch auf Englisch. Wir sind aktuell drei Kolleg_innen und haben alle eine Weiterbildung zur Online-Berater_in absolviert.

In diese offenen Sprechstunden können zunächst einmal alle Personen kommen, die sich mit einem gewählten Nickname bei uns einloggen und eine Frage/ ein Anliegen haben, erst einmal schauen wollen, was in einer solchen Chatberatung passiert oder einfach quatschen wollen.  Diese offene Sprechstunde ist meist der erste Kontakt, den wir zu Personen haben. Daraus entwickeln sich dann teilweise weitere längerfristige Beratungen.“
 

Das Angebot von ira e.V. richtet sich an alle Personen, unabhängig vom Geschlecht. Jedoch hat man bei einigen eurer Themen eher Frauen als Zielgruppe im Kopf. Nehmen auch Männer oder diverse Personen eure Beratung in Anspruch?

„Ja, unser Angebot wird von allen Geschlechtern angefragt. Insbesondere im Bereich von Sexarbeit wenden sich beispielweise immer wieder Männer über die digitale Streetwork mit Fragen und Anliegen an uns. Und auch im Kontext von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung haben wir Klient_innen unterschiedlicher Geschlechts- und Identitätszugehörigkeiten.“
 

Eure Themen sind Menschenhandel, sexualisierte Gewalt und Sexarbeit, aber auch Genitalverstümmlung. Werden diese gleichgewichtet angefragt?

„Das kann ich gar nicht genau sagen, weil sich die Themen teilweise überlappen oder auch Personen unser Angebot nutzen, die von mehreren Gewaltformen betroffen sind. Oft wird erst im Laufe der Beratung nach Wochen und Monaten offenkundig, dass es noch weitere Themen gibt, bei denen sich die Klient_innen professionelle Unterstützung wünschen. Das ist ganz unterschiedlich.“
 

Laut Unicef sind weltweit mehr als 230 Millionen Frauen in 31 Ländern von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen. Wie sieht hier eure Aufklärungs- und Beratungsarbeit aus?

„Bei erlebter weiblicher Genitalverstümmelung und -beschneidung führen wir viele Beratungen hinsichtlich des Umgangs und der Folgen durch. Wir informieren Klientinnen zu einer möglichen Rekonstruktions-OP und begleiten bei Bedarf zu ärztlichen Terminen bei Dr. O'Dey, mit dem wir eng kooperieren und der spezifische operative Methoden zur Rekonstruktion des Genitals von Betroffenen weiblicher Genitalbeschneidung entwickelt hat. Wir bieten Workshops für Fachkräfte an, um sie für das Thema zu sensibilisieren. Wir schulen sie auch im Umgang damit, wenn sie erfahren, dass ein Mädchen im Rahmen von sogenannter ‚Ferienbeschneidungen‘ gefährdet ist. Das bedeutet, dass Mädchen bei einem Verwandtschaftsbesuch in Afrika, dem Nahen Osten oder einigen asiatischen Ländern in den Sommerferien beschnitten werden.
 

Das Beratungsangebot durch ira e.V. ist kostenlos. Wie finanziert ihr e­uch?

„Die Finanzierung unserer Angebote stellt uns immer wieder vor große Herausforderungen, da wir auf Spenden und Projektgelder angewiesen sind. Seit einem Jahr erhalten wir allerdings auch eine mehrjährige Förderung unseres digitalen Angebots über die StädteRegion – das freut uns ganz besonders.“
 

Ihr habt zeitnah nach der Gründung eine Auszeichnung von der StädteRegion Aachen erhalten. Was bedeutet das für euch?

„Wir sind 2023 für unsere Arbeit vom Städteregionsrat ausgezeichnet worden, worüber wir uns selbstverständlich sehr gefreut haben. Das Programm „Miteinander“ der Städteregion setzt sich zum Ziel, das Zusammenleben der Menschen zu verbessern, die Wertschätzung für die Verschiedenheit der Menschen zu erhöhen und für Rassismus und Diskriminierung sowie ihre Folgen zu sensibilisieren. Wir verstehen den Preis als große Wertschätzung unserer Arbeit und als Bestätigung, dass die Bedarfe, Herausforderungen und Themen unserer Zielgruppe in der Städteregion gesehen werden. Das ist wichtig, um Veränderungen anzuregen und uns gemeinsam mit anderen Akteur_innen für Verbesserungen – auch auf politischer Ebene – einzusetzen.“
 

Wenden sich auch Behörden an euch, um eure Expertise für ihre Arbeit zu nutzen?

„Ja, es kommt immer wieder vor, dass sich Behörden, andere Beratungsstellen oder Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe themenspezifisch an uns wenden und wir bei verschiedenen Fragestellungen und Anliegen miteinander kooperieren. Zudem führen wir bei Bedarf auch Workshops, Vorträge und Informationsveranstaltungen für Fachkräfte zu Themen wie ‚Weibliche Genitalverstümmelung und -beschneidung‘, ‚Loverboy-Methode‘ oder ‚Sexualisierte Gewalt auf der Flucht‘ durch.“
 

Was passiert in den ‚Loverboy-Workshops‘?

„Wir bieten diese Workshops sowohl für Fachkräfte, aber auch speziell für Schüler_innen und Jugendliche an. Die Loverboy-Methode ist eine Form des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung, indem der sogenannte Loverboy dem betroffenen Mädchen eine Liebesbeziehung vorspielt, sie manipuliert und emotional von sich abhängig macht, um sie dann in der Prostitution auszubeuten.“
 

Wie erreicht ihr die Schüler_innen und wer bucht euch?

„Wir gehen in Schulen oder in Einrichtungen der offenen Jugendarbeit. Die Nachfrage ist momentan sehr hoch. Wenn Schulen oder andere Einrichtungen Interesse daran haben, können sich diese gerne direkt an uns wenden. Die Workshops dauern in der Regel drei Stunden und werden für maximal 25 Teilnehmer_innen (meist Mädchengruppen) im Alter von circa 13 bis 16 Jahren angeboten. Sie beinhalten Inputs, Austauschrunden und Diskussionen oder Videos, um die Jugendlichen für diese Form des Menschenhandels zu sensibilisieren und sie mit dem Wissen sowohl zur Methode, aber auch zu den Hilfsangeboten auszustatten.“
 

Vielen Dank für das Interview!


Interview: Carmen Nos (Dekanatsreferentin am Standort Aachen)

 

Katharina Vorberg

Katharina Vorberg

wissenschaftliche Mitarbeiterin im Praxisreferat

Aachen, Sozialwesen

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