Gerechtigkeit für „Kinderschutzkinder“
Wie in Kinderschutzverfahren soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten produziert werden – Prof.in Dr.in Judith Haase (katho, Standort Münster) und Prof.in Dr.in Vanessa Schnorr (KH Mainz) diskutierten die Ergebnisse einer Studie zur Organisation von Kinderschutz in einer deutschen Großstadt auf der Konferenz der European Scientific Association on Residential and Family Care for Children and Adolescents (EuSARF) 2023.
Unter dem Titel „Gleichheit und soziale Gerechtigkeit in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe“ lud die EuSARF vom 12. bis 15. September 2023 an die School of Education and Social Work der University of Sussex nach Brighton, England, ein. Ziel der Tagung war es, zu diskutieren, wie in den Kinder- und Jugendhilfesystemen weltweit die verschiedenen Arten von Benachteiligungen, denen Kinder, Jugendliche und Familien ausgesetzt sind, erfasst und abgebaut und stattdessen Gleichheit und Gerechtigkeit erreicht werden können. Gemeinsam mit Prof.in Dr.in Vanessa Schnorr von der Katholischen Hochschule in Mainz präsentierte Prof.in Dr.in Judith Haase aus Münster ausgewählte Ergebnisse der DFG-geförderten Studie „Kinderschutzkarrieren“. In dem Projekt wurden knapp 5000 Fallakten einer auf Kinderschutzdiagnostik spezialisierten Einrichtung, über 400 Konzeptpapieren dieser Einrichtung, 900 korrespondierenden Fallakten aus dem Jugendamt und acht biographischen Interviews mit verschiedenen Methoden und theoretischen Zugängen analysiert. Die Forscherinnen konnten herausarbeiten, dass ungleiche Lebensbedingungen, Erfahrungen sozialer Ausgrenzungen, Krisen und Gewalt nicht nur Anlässe von Kinderschutzmaßnahmen sind, sondern diese auch selbst Benachteiligungen und Verletzungen hervorbringen können. Abschließend fordern sie, dass Kinderschutz kindorientiert sein muss: Die Interessen und Bedarfe der Kinder müssen Hilfe- und Schutzprozesse formieren, nicht Organisationserfordernisse und Systemlogiken. Ein solcher partizipativer, subjektorientierter und gerechter Kinderschutz lasse sich allerdings nicht ausschließlich durch die Qualitätsentwicklung innerhalb des Kinderschutzsystems erreichen, da Kinderschutz in gesellschaftliche, politische und fachliche Kontexte eingebunden ist. Daher sind manche Voraussetzungen auch dort zu verankern: Wir benötigen eine gesellschaftliche Kultur, die durch Diversitätssensibilität und Inklusion gekennzeichnet ist und in der „Kinderschutzkinder“ stolz darauf sein könnten, dass sie Hilfe erhielten und geschützt wurden, statt dass sie stigmatisiert und aufgrund der Inanspruchnahme von Maßnahmen benachteiligt werden.
Text: Prof.in Dr.in Judith Haase
Fotos: katho, Vanessa Schnorr
Kontakt
Prof. Dr. Judith Haase
Beauftragte für den Bereich Praxis & Supervision (Soz. Arbeit)
Münster, Sozialwesen