Kontaktseminar thematisiert wohnungslose Menschen mit psychischen Erkrankungen
Seit 1991 lädt die katho am Standort Münster jedes Jahr im Februar zum Kontaktseminar „Option für die Armen“ ein. Die „opción por los pobres“ verdankt sich der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung und ist Teil der katholischen Soziallehre. Beim 35. Kontaktseminar Option für die Armen trafen sich vom 10. bis zum 14. Februar 2025 30 Ordensleute und Fachkräfte aus sozialen und pastoralen Arbeitsfeldern aus Berlin, München, Gießen, Quakenbrück, Hamburg und Münster zusammen mit 15 katho-Studierenden der Sozialen Arbeit, um an aktuellen Themen der Option für die Armen zu arbeiten. Das Seminar wird geleitet von Prof.in Dr. Andrea Tafferner und dem Dipl.-Sozialarbeiter Bernd Mülbrecht.
Das diesjährige Motto lautete „Hoffnungspunkte“. Denn wir brauchen sie: die Orte für klare Hilfe, menschliche Zuwendung und Weitergabe des Evangeliums, der guten Nachricht für die Armen (vgl. Lk 4,18). Schwerpunktmäßig ging es um wohnungslose Menschen mit psychischen Erkrankungen, deren Versorgung die bisherigen Hilfesysteme zunehmend herausfordert. Neben guten medizinischen und psychosozialen Angeboten sind auch hier eine spirituelle Haltung und seelsorgliche Begleitung gefragt – für sich selbst und für die Klientinnen und Klienten.
„Würde – unantastbar“
Der Montag begann mit der Geschichte von Saul und David aus den Samuel-Büchern in der Deutung des großen jüdischen Gelehrten Friedrich Weinreb (1910 – 1988). Professorin Andrea Tafferner verband die biblische Erzählung der beiden gegensätzlichen Könige mit der Aktion „Würde unantastbar“ des Vereins für Menschenwürde und Demokratie e.V.. Die quadratischen Holztäfelchen nach dem Entwurf des Diakons und Bildhauers Ralf Knoblauch erinnern an die Königswürde jedes Menschen – ganz im Sinne der Figur Königs David. Der Name David heißt „der Geliebte“, und genau so lebt er: aus der Liebe Gottes, seiner verborgenen Königswürde heraus, besiegt er sogar den Riesen Goliat.
Am zweiten Tag standen konkrete Herausforderungen bei der Unterstützung von psychisch kranken und drogenabhängigen Menschen im Mittelpunkt. Dr. med. Stephan Lange, Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie an der LWL-Klinik Münster, ist auch im Mobilen Dienst von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe der Bischof-Hermann-Stiftung in Münster tätig. Er ist vertraut mit der Situation von Menschen, die von Armut betroffen und psychisch krank, teils auch drogenabhängig sind. Wie er obdachlosen Menschen begegnet und wie er versucht, deren Leiden zu lindern, führte zu einem regen Austausch über Erfahrungen von Hilfsmöglichkeiten, aber auch von Hilflosigkeit und Unzulänglichkeiten des Hilfesystems. Welche Möglichkeiten ein niedrigschwelliges Drogenhilfezentrum dabei bieten kann, stellte im Anschluss Eva Gesigora von INDRO e.V. vor, einer Einrichtung in der Nähe des Münsteraner Hauptbahnhofs, die neben einem Drogenkonsumraum und einer drogentherapeutischen Ambulanz vielfältige Beratungsmöglichkeiten anbietet.
Gesundheitliche, soziale und religiöse Bedarfe wohnungsloser und (psychisch) kranker Menschen
Um die gesundheitlichen Bedarfe wohnungsloser Menschen ging es auch am Mittwoch. Stefanie Beckmann, Helena Brockmann und Bernd Mülbrecht von der Bischof-Hermann-Stiftung stellten das „Modellprojekt ‚Cared.Wende‘ – Neue Wege in der Versorgung schwer kranker und pflegebedürftiger wohnungsloser Menschen in Münster“ vor. Mit Mitteln des „Aktionsprogramms Hilfen in Wohnungsnotfällen“ des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW wird mittels empirischer Forschungsmethoden untersucht, wie der Zugang zu (palliativ-)pflegerischen Angeboten für schwer erkrankte und pflegebedürftige wohnungslose Menschen in Münster verbessert werden kann. Auch hier ergab sich eine lebhafte Diskussion. Notunterkünfte und Bahnhofsmissionen kennen die schwierige Situation, dass wohnungslose Menschen aus dem Krankenhaus in Einrichtungen entlassen werden, die keine Pflegeversorgung gewährleisten können.
Noch zu wenig berücksichtigt werden auch die kulturellen und religiösen Bezüge (psychisch) erkrankter Menschen. Daniel Roters, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster, sprach über (seelische) Gesundheit, Resilienz und Vulnerabilität aus muslimischer Perspektive. Er gab den Teilnehmenden einen Einblick in die große Bedeutung des Korans, aber auch der Hadithe (Aussprüche und Taten des Propheten Mohammed) für die Bewältigung von Krisen und Krankheiten, betonte aber auch die mehr kulturell als religiös bedingten Vorbehalte bei psychischen Erkrankungen. Gottvertrauen, Langmut und Dankbarkeit sind im Islam heilsame Tugenden – gerade in schwierigen Lebenssituationen.
Best-Practice-Beispiele
Schließlich konnten Beispiele erstaunlichen Engagements von haupt- und ehrenamtlich tätigen Menschen kennengelernt werden. Die Ordensschwester Klarissa Watermann betreibt in Hamburg zusammen mit gut 100 Ehrenamtlichen Klaras Küche. Elke Scheermesser und Pater Waldemar Brysch stehen für die Gastkirche St. Barbara in Essen-Kray. Dominik Blum, Pfarrbeauftragter der Pfarreiengemeinschaft Artland im Bistum Osnabrück, arbeitet nach dem Modell der gemeinwohlorientierten Pastoral. Sie alle inspirierten zu kirchlichen Experimenten, die ausgegrenzte Menschen wieder am gesellschaftlichen Miteinander teilhaben lassen.
Bei den „Besuchen vor Ort“ fanden vertiefende Gespräche im Haus der Wohnungslosenhilfe, in der Beratungsstelle Brückenschlag und in der Forschungsstelle Cared.Wende statt. Eine Gruppe erkundete die Geschichte der NS-Euthanasie auf dem Gelände der LWL-Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, der früheren Provinzialheilanstalt Marienthal. Ingrid Feldkamp und Hermann Geusendam-Wode erinnerten vor Ort an Else Stumpe und die Clemensschwester Laudeberta, die 1941 den damaligen Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen über die Deportation der Patientinnen und Patienten informierten, und führten die Gruppe an die Gedenkorte der Klinik. Solches Erinnern ist unersetzbar; es ist auf seine Weise ein kompromissloses Eintreten für die Würde jedes Menschen.
Die Holztäfelchen „Würde unantastbar“ werden nun an so manchem Hoffnungsort zu finden sein. In Beratungsstellen, Gastkirchen, Sozialbüros, an Treffpunkten wohnungsloser und pflegebedürftiger Menschen und weiteren Orten werden sie uns an die eigene Würde und die jedes anderen erinnern.
Text: Prof.in Dr. Andrea Tafferner
Fotos: Anna Nolte, Anja Mai
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Prof. Dr. Andrea Tafferner
Prodekanin / Professorin für Theologie, Sozialphilosophie
Münster, Sozialwesen