Nach der Zäsur. Begegnungen in Israel nach dem 7. Oktober
Das siebentägige Programm der Reise umfasste den Besuch von Bildungs- und Forschungseinrichtungen in Tel Aviv und Jerusalem, Gespräche mit Wissenschaftlern und Journalisten und insbesondere eine Erkundung der Memorials des 7. Oktobers im westlichen Negev. Ein besonderer Moment war dabei die Begegnung mit Gadi Mozez, einer ehemaligen Geisel der HAMAS.
Das Land, so der Tenor der Gespräche, sei in einer tiefgreifenden Krise. Andrea Livnat, Historikerin und Herausgeberin des jüdischen Internetportals haGalil.com, ist besorgt: Die Welle der Solidarisierung, die Israel unmittelbar nach den Massakern international erfuhr und die innenpolitisch zu einem Gefühl der Geschlossenheit führte, sei abgeebbt, und frühere, teilweise überwundene Grabenkämpfe haben sich neu entfacht und zu gravierenden Spaltungen innerhalb der israelischen Gesellschaft geführt.
Die Identität Israels stehe auf dem Prüfstand, erklärt auch Professor Maoz Azaryahu, Direktor des Herzl Institute for the Study of Zionism an der Universität Haifa, das sich mit Fragen zur Dynamik des modernen Nationalismus und der nationalen Identität Israels beschäftigt. Israel sei ein äußerst heterogenes Land, in dem unterschiedliche politische Positionen schon immer kontrovers diskutiert wurden. Der Angriff vom 7. Oktober und die willkürliche, grausame Ermordung von Zivilisten haben die israelische Gesellschaft in einen Schockzustand versetzt und zu einem tiefgreifenden Unsicherheitsgefühlt geführt. Positionen, die ein hartes Vorgehen gegen die Aktivitäten der islamistischen De-Facto-Regierung im Gaza-Streifen fordern, erfahren Zulauf, während Gruppierungen, die eine Freilassung der Geiseln fordern, sich zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt sehen, durch ihre Kampagnen die Verhandlungsposition der HAMAS zu stärken. Eine Übereinkunft zu finden, sei hier äußerst schwierig.
Dies bestätigt auch Julian Tsapir vom German Desk der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem, mit dem sich Stephan Grigat in Tel Aviv traf. Das global führende Gedenkstättenzentrum mit Sitz in Jerusalem ist spezialisiert auf die Ausarbeitung von Bildungsmaterialien und Formaten der Erinnerungsarbeit, um frühzeitig aufzuklären und Antisemitismus nachhaltig abzuwehren. Mit Tsapir sprach Stephan Grigat in diesem Kontext auch über geeignete Formate, um die Holocaust-Bildung an Hochschulen zu vertiefen und dadurch verstärkt für das Thema Antisemitismus zu sensibilisieren.
Zum Abschluss folgte Stephan Grigat einer Einladung des Center for German Studies der Hebräischen Universität in Jerusalem, wo er sich unter anderem mit Professor Tobias Ebbrecht-Hartmann sowohl über die aktuelle politische Situation als auch über die Atmosphäre an den israelischen Universitäten und Hochschulen austauschte. Tobias Ebbrecht-Hartmann lehrt Filmgeschichte, deutsche Kulturgeschichte und Erinnerungskulturgeschichte und ist Experte für filmische und digitale Formen der Erinnerung an den Holocaust. Im letzten Jahr veröffentlichte das CARS seinen Beitrag „Memefizierter Antisemitismus. Protest und antisemitische Projektion auf TikTok, Instagram & Co im Schatten des 7. Oktobers“ als CARS Working Paper 21.
Neben den Fachgesprächen besuchte Stephan Grigat die Memorials und Stätten des Angriffs vom 7. Oktober 2023. Organisiert wurde diese Exkursion von dem Stuttgarter Sozialpädagogen Oliver Vrankovic, der seit vielen Jahren in einem Seniorenheim in Israel arbeitet, dort Überlebende des Holocaust pflegt und sich seit langem in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft für den deutsch-israelischen Austausch und für Solidarität mit dem Staat der Holocaustüberlebenden und ihrer Nachkommen einsetzt.
Die Exkursion führte die Teilnehmenden auf das Gelände des Nova-Festivals sowie durch die Kibbuzim Nir Oz, Nirim und Magen, die alle am Morgen des 7. Oktobers 2023 von Tausenden Terroristen und Zivilisten überfallen wurden. Efrat Machikawa, die Nichte des kürzlich freigelassenen, 80jährigen Gadi Mozez, erzählt von ihrer Verzweiflung und ihrem Bangen um ihre Angehörigen, Nachbarn und Freunde: Jeder vierte Bewohner des nur gut 400 Einwohner umfassenden Kibbuz Nir Oz wurde entweder ermordet oder verschleppt. Auch Renana Yaacov, deren Mann und deren zwei damals 12 und 16 Jahre alten Söhne in den Gaza-Streifen verschleppt wurden, erklärt, dass dem Extremismus der Hamas und der anderen islamistischen Gruppierungen eine Weltanschauung zugrunde liege, die tief in Teilen der arabischen Gesellschaft verwurzelt sei. „Eines meiner Kinder wurde nicht von der Hamas, sondern von sogenannten Zivilisten entführt. Und dann von ‚Zivilisten‘ in Gaza in Geiselhaft gehalten. Ich weiß nicht, wie ich wieder in unserem Kibbutz leben soll, solange in Sichtweite diese ‚Zivilisten‘ leben. Und ich komme – wie alle im Kibbutz – aus der israelischen Linken.“
Auch Adele Raemer, die seit 1975 im benachbarten Kibbuz Nirim lebt und die mittlerweile zum Sprachrohr der Überlebenden ihrer Gemeinde geworden ist, sieht eine deutliche Zäsur nach den Massakern des 7. Oktobers. Die Aussichten auf ein gewaltfreies Miteinander in naher Zukunft schätzt sie dabei wenig optimistisch ein: „Wir waren diejenigen Israelis, die immer auf Frieden, Ausgleich und Kooperation mit unseren Nachbarn in Gaza gesetzt haben. Der 7. Oktober hat die Illusion eines friedlichen Miteinanders nachhaltig zerstört.“ Martin Sessler aus dem grenznahen Kibbuz Magen, der sich als Religionslehrer lange im interreligiösen Dialog engagiert hatte und dafür plädiert, den Dialog im Geiste einer Versöhnung weiterzuführen, hegt ebenfalls kaum Hoffnung, dass sich die Situation an der Grenze in naher Zukunft beruhigt. „Ich fühle mich heute nicht sicher in unserem Kibbutz. Und ich denke, irgendwann wird es weitere Angriff geben. Aber natürlich bleiben wir hier“, macht er seine Position deutlich. Auch Gadi Mozes, der 482 Tage im Gaza-Streifen gefangen gehalten wurde und der seine Lebensgefährtin bei dem Angriff verlor, möchte sein Heimatdorf nicht aufgeben: „Seitdem ich zurück bin, arbeite ich am Wiederaufbau unseres Kibbutz“.
Eines hat die Reise deutlich gezeigt: Der 7. Oktober, der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoah, markiert eine Zäsur für die israelische Gesellschaft. Das Sicherheitsempfinden seiner Einwohner_innen wurde grundlegend erschüttert, und für viele hat der 7. Oktober bis heute nicht geendet. Stephan Grigat mahnt, diese Entwicklung stärker in den Blick zu nehmen. „Wie sehr die Massaker und Pogrome vom 7. Oktober eine Zäsur darstellen, scheint mir in der deutschen Gesellschaft und in der Berichterstattung noch immer nicht angekommen zu sein. Die Besuche und Begegnungen haben mir nochmals verdeutlicht, wie notwendig eine Diskussion auch darüber ist, inwiefern der 7. Oktober einen Einschnitt für die Kritik des Antisemitismus und für die Nahost-Diskussion in Deutschland darstellt – oder darstellen müsste.“
Weitere Informationen
Prof. Dr. Stephan Grigat
Professor für Theorien & Kritik des Antisemitismus, Leiter des Centrums für Antisemitismus- & Rassismusstudien (CARS)
Aachen, Sozialwesen