Reichlich Klärungsbedarf - Das Kontaktseminar Option für die Armen 2023 befasste sich mit globalen Krisen
In der Sprache der Befreiungstheologie geht es um die Option für die Armen und für die Erde, wie Papst Franziskus sie in seiner Enzyklika Laudato si‘ (LS) durchgängig vertritt. Die gegenwärtige Lebensweise des globalen Nordens sei unhaltbar und zerstörerisch (vgl. LS 161), so Andrea Tafferner, Professorin an der katho und gemeinsam mit Bernd Mülbrecht Leiterin des jährlich stattfindenden Kontaktseminars Option für die Armen. Die Teilnehmenden besprachen Ansätze einer „ganzheitlichen Ökologie“, die u.a. aus „einfachen alltäglichen Gesten gemacht (ist), die die Logik der Gewalt, der Ausnutzung, des Egoismus durchbrechen.“ (LS 230)
Corona-Lockdowns aus der Perspektive der Armen
In den Zeiten der Corona-Lockdowns hat sich die Lebenslage von Menschen, die von Armut betroffen sind, deutlich verschlechtert. Frater Emmanuel Rotter OSB und Schwester Monika Plank CS aus München, Bruder Michael Wies OFMCap aus Frankfurt und Bernd Mülbrecht von der Bischof-Hermann-Stiftung in Münster waren sich einig: Zu Schließungen von existenzsichernden und sozial stabilisierenden Einrichtungen darf es nie wieder kommen. In München unterhält das Benediktinerkloster St. Bonifaz unweit des Hauptbahnhofes das Haneberghaus, eine Anlaufstelle für obdachlose Menschen. Täglich erhalten dort 400 Menschen Essen, Kleidung, ärztliche und soziale Beratung. Nach dem von der bayrischen Staatsregierung angeordneten Shutdown im Frühjahr 2020 war für Frater Emmanuel Rotter und Schwester Monika Plank klar: „Wir können die Besucher des Haneberghauses nicht im Stich lassen.“ Es gelang, ein den Vorgaben angepasstes Hilfsangebot durchgängig aufrecht zu erhalten. Dasselbe berichtete Bruder Michael Wies, der Leiter des Franziskustreffs in der Frankfurter Innenstadt. Bernd Mülbrecht vom Projekt Brückenschlag in Münster, einer Beratungsstelle für Familien in Wohnungsnot, hielt fest: Die größte Bedrohung während der Pandemie war für Menschen, die von Armut betroffen sind, die Schließung von Behörden. Ob Jobcenter, Bürgerbüro, Sozialreferat, Renten- und Krankenversicherung: Der Rückzug der Behörden ins Homeoffice hat viele Menschen an existentielle Grenzen gebracht.
Wie Einsamkeit durchbrechen?
Durch die Pandemie sind auch Fragen der Verhinderung von Vereinsamung dringlicher geworden. Studien zeigen, dass die subjektive Einsamkeit während der Pandemie vor allem bei Jüngeren zugenommen hat. Gleichzeitig ist es alles andere als einfach, Menschen, die sich einsam fühlen, zu erreichen. Theresa Frye und Anna Isenberg vom Caritasverband für die Stadt Essen haben Initiativen wie „Herz am Telefon“ und „Smartphone-Sprechstunden“ vorgestellt. Mit ihrem Arbeitsbereich „Caritas & Pastoral“ sind sie als Sozialarbeiterinnen Teil der pastoralen Teams vor Ort.
Grundrecht auf digitale Teilnahme
Eine der folgenreichsten Entwicklungen seit Corona ist die Digitalisierung. Menschen, die von Armut betroffen sind, waren während der Lockdowns vielfach abgehängt. Ohne Scanner, ohne Tablet, ohne Zugang zum Internet war keine Behörde erreichbar, war kein Homeschooling mit Kindern möglich. Matthias Rohlfing vom Kettelerhaus der Bischof-Hermann-Stiftung in Münster macht sich für digitale Teilhabe als Grundrecht aller Menschen stark und stellte verschiedene Förderprojekte und Digitalisierungshilfen vor. So zähle z. B. eine sichere Handyladestation zur unabdingbaren Ausstattung von Notunterkünften.
Die Logik der Gewalt durchbrechen
Wie Frieden stiften angesichts des Krieges? Am vierten Tag des Seminars stand der Schrecken des Krieges gegen die Ukraine im Raum. Klaus Hagedorn, Geistlicher Beirat von Pax Christi Deutschland, der Internationalen Katholischen Friedensbewegung, bedauerte, dass nach 1945 und insbesondere nach dem Fall der Mauer die Versöhnungsarbeit mit den Staaten der ehemaligen Sowjetunion verpasst wurde. Wie können wir jetzt nach einem Jahr Krieg gegen die Ukraine aus der Spirale zunehmender Gewalt herauskommen? Die jesuanische Friedensethik setze auf Gewaltverzicht, auf Maßnahmen effektiven, gewaltlosen Widerstands, auf präventive Friedensarbeit, auf Mediatoren. Hat sie noch eine Chance? Keinesfalls dürften wir uns an Kriege und Gewalt gewöhnen. Gesprächskanäle und Kontakte zu allen Beteiligten müssten aufrechterhalten werden und die „öffentliche Debatte muss aus der militärischen Engführung“ herausgeholt werden, so Hagedorn.
Auf großes Interesse stieß auch die Ausstellung des Fördervereins für Wohnhilfen e.V. „Wir sind Münster! Wir sind Europa? Augenblick mal …“, die zurzeit in der Fluren der katho zu sehen ist. Sie portraitiert 16 Menschen, die in Münster leben und hier Wohnung, Arbeit und Bildung für ihre Kinder suchen.
Bei den Besuchen vor Ort standen dieses Jahr das Wohnen 60plus, das Langzeitwohnen im Kettelerhaus, das Projekt Brückenschlag und der Treffpunkt an der Clemenskirche auf dem Programm.
Die globalen Krisen sind erdrückend. „To exist is to resist”, zitierte Klaus Hagedorn. Wir sind nicht ohnmächtig, sondern sehr wohl handlungsfähig. Das zeigte dieses Seminar auf beeindruckende Weise.
Text: Prof. Dr. Andrea Tafferner, a.tafferner@katho-nrw.de
Fotos: Birte Kruse, Marion Nettels, Andrea Tafferner
Kontakt
Prof. Dr. Andrea Tafferner
Prodekanin / Professorin für Theologie, Sozialphilosophie; Prodekanin
Münster, Sozialwesen