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Tagung: Kulturpädagogik am Schnittpunkt von Gedenkstättenpädagogik, Sozialer Arbeit und ästhetischer Praxis

Vom 5. bis 7. November 2025 fand an der Akademie Franz Hitze Haus die Abschlusstagung des kulturpädagogischen Projekts „Grafeneck – Münster / 1940 – heute“ statt. In dem gemeinsam von der Gedenkstätte Grafeneck auf der Schwäbischen Alb und der katho ausgerichteten und von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesfinanzministerium großzügig finanzierten Drittmittelprojekt setzten sich Studierende und Schüler_innen eineinhalb Jahre lang in Exkursionen und Workshops mit den nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Verbrechen auseinander. Indem sie viele der beteiligten Akteure zusammenbrachte und die Vielfalt der methodischen Ansätze in einer großen Bandbreite an Präsentationsformen zeigte, gelang eine ungewöhnlich lebendige Tagung zu diesem ernsten Thema.

Schüler der Hauptschule Coerde, Studierende und die Grafenschrecks sprechen über ihre Erfahrungen im Projekt - weitere Fotos finden Sie unten in der Bildergalerie

Vortrag Eugenische Phantasmen von Dagmar Herzog

In der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (1933 - 1945) entsteht nicht nur ein Wissen über eine vergangene Zeit und die andere Kultur, um die es sich beim deutschen Faschismus mit seiner rassistischen Ideologie aus heutiger Sicht handelt. Es werden auch an unserer demokratischen Gegenwart problematische Aspekte sichtbar, die sich vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus zeigen. Deutlich wurde dies im Eröffnungsvortrag der Tagung. Dr. Dagmar Herzog, Professorin für History, Social Welfare, Women's and Gender Studies am Graduate Center der City University of New York mit den Forschungsschwerpunkten Modern European, History of Sexuality, History of Religion und Holocaust Studies stellte ihre Studie ‚Eugenische Phantasmen - Eine deutsche Geschichte‘ (Suhrkamp 2024) vor. In einer ungeheuren Materialfülle, durch die sie das zahlreiche und gebannt zuhörende Publikum entlang eines glasklaren Argumentationsstrangs leitete, zeigte sie die Kontinuität auf, die ein auf Entwertung, Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe abzielendes und letztlich rassistisches Verständnis von Menschen, die als behindert gelten, im Deutschland des 20. Jahrhunderts bildete. Mit der im Original unter dem Titel ‚The Question of Unworthy Life‘ (Princeton University Press) erschienenen Studie knüpft sie an ihre Untersuchung ‚Unlearning Eugenics: Sexuality, Reproduction, and Disability in Post-Nazi Europe‘ an. Ihr jüngst erschienener Essay, ‚Der neue faschistische Körper‘, zeichnet die von Herzog herausgearbeitete Kontinuität der Behindertenfeindlichkeit bis ins Parteiprogramm der AfD nach. Die Diskussion des brillanten Vortrags zeigte Parallelen zur Feindlichkeit gegenüber Menschen mit Migrationserfahrung auf, wie sie in der deutschen Politik heute vorherrscht. Dabei wurde Herzogs These von der erotischen Aufladung dieser Entwertungen interessiert aufgegriffen und von ihr plausibel begründet. Die „Durchsetzung eines erotisierten eugenischen Paradigmas sei der„Schlüsselfaktor für den Erfolg des Nationalsozialismus gewesen.

Am Ende der Tagung danach gefragt, wie ihr die Tagung gefallen habe, erwiderte Dagmar Herzog die Begeisterung, die sie mit ihrem Vortrag ausgelöst hatte. „Es war einfach umwerfend toll! So gut organisiert mit so einer fantastischen Mischung von Bedenkzeit und sensiblen Momenten. Und dann unglaublich viel Inhalt, aber aus so vielen verschieden disziplinären Perspektiven. Ich fand sehr wichtig, dass die Soziale Arbeit, die Heilpädagogik, die kunstpädagogischen Vorstellungen, dass das alles dabei war und nicht nur Geschichte ein Thema war. Ich habe von jedem gelernt.
 

Die Soziale Arbeit und Heilpädagogik in der NS-Zeit

Das gemeinsame Nachdenken darüber, welche Bedeutung der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit für die Soziale Arbeit und die Heilpädagogik/Inklusive Pädagogik zukommen kann, bildete einen Tagungsschwerpunkt. Es sind die beiden Fächer, die an der Abteilung Münster der katho studiert werden können und es nahmen einige Studierende der katho an der Tagung teil, ebenso wie ein kompletter Soziale Arbeit-Kurs der FH Münster. Auf einem Podium mit Kurvorträgen und Diskussion erörterten die Professor_innen Dr. Annette Eberle von der Katholischen Stiftungshochschule München, Dr. Gabriele Fischer von der Hochschule München, Dr. Julia Gebrande von der Hochschule Esslingen - und Mitglied der Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs - sowie Dr. Werner Brill von der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes das Thema. Dabei kritisierte Werner Brill die in weiten Teilen der Sozialen Arbeit vorherrschende Geschichtsvergessenheit. Kurse zur Rolle, die die Soziale Arbeit im Nationalsozialismus spielte, seien bis heute nicht curricular verankert! Tatsächlich habe die Soziale Arbeit lange so getan, als habe sie in der NS-Zeit gar nicht stattgefunden. Das sei freilich falsch. Der Unterschied zur Heil- und Sonderpädagogik bestehe lediglich darin, dass Letztere in ihrer Geschichtsklitterung so weit gegangen seien, sich als Opfer zu stilisieren, während sie tatsächlich Täter waren.

An den Lebensläufen zweier Personen zeigte Annette Eberle in ihrem Beitrag die Auswirkungen auf, die die nationalsozialistische Fürsorgepolitik, mit ihrem rassistischen Menschenbild und ihren gewaltvollen Erziehungsmethoden, lange über das Ende des Nationalsozialismus im Jahr 1945 hinaus hatten.

Gabriele Fischer und Julia Gebrande präsentierten Ergebnisse einer Untersuchung, die sie zu Prüfungsaufgaben im Bereich Soziale Arbeit am Vorläufer der Hochschule Esslingen durchgeführt hatten. Mit dem Ansatz, die nationalsozialistische Geschichte einer Institution zu thematisieren, an der sie beide lehrten, stießen sie in diesen Prüfungsaufgaben auf zunächst unauffällig erscheinende Fragestellungen und Formulierungen. Die Auflösung der Aufgaben erwies sich dann allerdings als aufgeladen mit der für die NS-Zeit typischen Idealisierung einer vermeintlichen ‚Volksgemeinschaft’ und den als nichtzugehörig und ‚minderwertig’ kategorisierten, entwerteten Anderen - im vorgetragenen Prüfungsfall einer alleinerziehenden Mutter mit mehreren unehelichen Kindern, die als ‚asozial‘ von der Fürsorge ausgeschlossen werden sollte. Analog dazu zeigte Julia Gebrande am Beispiel des Buches „Mädelberufe in vorderster Front, 1940 von Margarete Junk, der damaligen Leiterin der Vorläuferinstitution der Hochschule Esslingen, der Frauenschule für Volkspflege des Schwäbischen Frauenvereins Stuttgart im Deutschen Frauenwerk’ als Werbung für die Ausbildung zur ‚nationalsozialistischen Volkspflegerin‘ veröffentlicht, wie hier potentiell interessierte in emphatischer Weise angesprochen werden und zugleich die dem Nationalsozialismus inhärente gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit eine klare Grenze zwischen den vermeintlich Dazugehörenden und den als nicht-zugehörig entmenschlichten Personengruppen zieht.
 

Vorstellung des kulturpädagogischen Ansatzes

Ein ganzer Tag war dem kulturpädagogischen Ansatz gewidmet, den das Projekt Grafeneck - Münster / 1940 - heute entwickelt hat und umsetzt. In diesem Zusammenhang stellte Dr. Jens Gründler vom LWL-Institut für Westfälische Regionalgeschichte die Anlage seines Seminars zu den NS-‚Euthanasie‘-Verbrechen im Münsterland vor, das er seit Projektbeginn jedes Semester an der Abteilung Münster anbietet. Es kombiniert einen sehr informierten Überblick über die verschiedenen Phasen der Diskriminierung und Ermordung von Menschen, deren Leben als ‚lebensunwert’ galt, mit exemplarischen, vertieften Analysen und dem selbständigen Arbeiten der Studierenden an und mit historischen Dokumenten.

Professorin Dr. Birgit Dorner von der Katholischen Stiftungshochschule München veranschaulichte in einem weiteren Hauptvortrag der Tagung den pädagogischen Wert, der künstlerischen und kunstpädagogischen Annäherungen an die NS-Zeit zukommt. Ihr geht es um die Frage, wie es möglich werden kann, mit den Ungeheuerlichkeiten der damaligen Zeit in Berührung zu kommen, um das Geschehene begreifen zu können. Entsprechend gab sie einige Beispiele für haptische Erfahrungsmöglichkeiten in der Gedenkstättenpädagogik. In konzeptioneller Hinsicht entwickelte sie entlang von Gernot Böhmes Verständnis von Atmosphäre den Vorschlag, die vor Ort jeweils bestehenden Atmosphären zum Ausgangspunkt für Erkenntnisse und das Lernen ernst zu nehmen. Eröffneten diese doch die Möglichkeit, im emotionalen Erleben der Teilnehmenden zu spielen und zugleich auch thematisierbar und zum Gegenstand des Dialogs gemacht werden zu können.

Dr. Nina Spöttling-Metz führte aus, wie sie im Grafeneck-Projekt eine kunstpädagogische Arbeitsweise umsetzt, die eine große Ähnlichkeit mit Birgit Dorners Überlegungen aufweist: Sie gestaltet die künstlerischen Teile der Workshops mit Schulklassen so, dass diese sehr übersichtliche Arbeitsmaterialien erhalten, Kohlestifte und Pastellfarben, die den Rahmen für eine kreative Beschäftigung setzen, der inhaltlich keine Grenzen gesetzt werden. Was dabei entsteht, muss nicht die ‚Euthanasie’-Verbrechen der NS-Zeit zum Gegenstand haben, auch wenn es dies häufig tut. Auch geht es nicht um die Hervorbringung von Werken, sondern darum, sich zu sammeln und ausdrücken zu können; darum, um das Erfahrene in sich zu bewegen und setzen lassen zu können.

Die Bremer Grafikdesignerin Bianca Wessalowski hat das Projektlogo entworfen. Sie hat Flyer zu Veranstaltungen gestaltet, die raffiniert gefaltet waren und aufgefaltet auch als Plakate dienten, und außerdem auch einen Kunstkatalog (zu Hannah Bischofs ‚Zyklus für Maria‘) und die Projekt-Broschüre ‚Entmenschlichung wahrnehmen und begegnen‘. In ihrem Tagungsbeitrag erläuterte sie die Auswahl der von ihr im Projekt verwendeten Schrifttype Havelock Titling. Eine sehr klare, geometrische, auf das Wesentliche reduzierte Schrift, die zeitlos modern wirkt. Für Bianca Wessalowski sind es allerdings die Aussparungen, die die Schrift kennzeichnen! So fehlt bei manchen Buchstaben die Vollständigkeit und sie sind doch lesbar. Diese Lücken im Grafischen sind ihr wichtig, weil das Thema, um das es dem Projekt geht, die systematische Vernichtung von Menschen in der NS-Zeit, Lücken in die Welt gerissen hat. Das Fehlen dieser damals ermordeten Menschen bleibt.

In zwei analytischen Großgruppensitzungen, die - geleitet von der erfahrenen Supervisorin und Gruppenanalytikerin Marita Barthel-Rösing - jeweils am Ende des Tages einen Raum für Reflexion boten, in dem offen gebliebene Gedankenfäden gesponnen und aufgekommene emotionale Belastungen ausgesprochen werden konnten, ging es unter anderem um die Sorge, in welcher Form das in der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen Gelernte sich in Handlung übersetzen lasse. Und es ging auch hier um das Fehlen, Verschwinden, Sich-Entziehen, das einen beim Thema Behinderung und psychische Erkrankung im Kontext des Nationalsozialismus und bis in die Gegenwart einholt.
 

Erfahrungen mit dem Projekt

In einem Podiumsgespräch zu den Erfahrungen, die sie in ihrem Mitwirken am Projekt gemachten hatten, saßen Schüler der Hauptschule Münster-Coerde mit ihren Lehrer_innen Jessica Watson und Klaus Veerkamp gemeinsam mit Studierende auf der Bühne. Die Schüler erzählten von ihrer Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Künstlerin Diane Samuels (‚Alphabet Garden‘, ‚Alphabet City / City of Asylum‘) in einem Projekt-Workshop und darüber, wie sich das im Unterricht fortsetzte und weiter wirkte. Die Studierenden stellten ihre einwöchigen Exkursionen nach Grafeneck vor. Sie veranschaulichten, wie auf der Exkursion die NS-Zeit mehrfach konkret wurde (neben Grafeneck auch in der jüdischen Geschichte Buttenhausens und des dortigen Arbeitslagers für im NS als ‚Asoziale‘ Diskriminierte). Die von ihnen als ‚Paradox‘ beschriebene Tatsache, dass Grafeneck nicht nur ein Gedenkort ist, sondern mit dem Samariterstift insbesondere ein Ort des Wohnens und Arbeitens, bildete eine starke Irritation, die den Studierenden eine Vorstellung von der Verbundenheit von Vergangenheit und Gegenwart eröffnete. Deutlich wurde, dass die Exkursion und begleitende Seminare etwas in ihnen bewegt hatten und sie immer noch sichtlich bewegen.

Sharon Blumenthal, Organisationsberaterin für Sozialunternehmen, griff in ihrem Beitrag die Ausführungen der Schüler und Studierenden auf. Sie beschäftigt sich mit der Wirkung von Maßnahmen und wies auf die Notwendigkeit hin, diese auch bei erinnerungskulturellen Bildungsprojekten in den Blick zu nehmen. Mit dem Grafeneck-Projekt als gelungenem Beispiel ermutigte sie, auch wenn dies schwierig sei, auf Wirkung zu achten und Projekte entsprechend nachhaltig anzulegen, etwa durch eine kontinuierliche Zusammenarbeit, wie sie hier in der Kooperation mit der Hauptschule Coerde deutlich geworden sei. Es sei notwendig, Methoden zu entwickeln und anzuwenden, die Wirkung auch dort aufzeigen und belegen können, wo diese nicht offensichtlich sei und sich erst langfristig zeige (Resonanzprotokolle, Nachbefragungen, Fokusgruppen etc.)
 

Grafeneck kommt ins Franz-Hitze-Haus

Einen Höhepunkt der Tagung bildete der Auftritt der Grafenschrecks, eine Gruppe von Menschen, die heute als Bewohner_innen, Mitarbeitende oder Gedenkstättenpädagogen mit dem Samariterstift Grafeneck verbunden sind und einen inklusiven Rundgang über das Gelände Grafenecks anbieten und dabei über die Geschichte des Ortes und speziell die NS-Verbrechen aufklären. Die Gruppe besteht seit 2024 und ihr Rundgang hatte im Sommer des Jahres mit einer Exkursionsgruppe aus Münster Premiere gefeiert - in der Zeitung KONTEXT erschien hierzu ein großer Artikel (https://www.kontextwochenzeitung.de/schaubuehne/720/ich-will-den-10654-menschen-eine-stimme-geben-9964.html). Die Grafenschrecks sind auch Protagonist_innen von TENDENZ VERZERRUNG, der Videoarbeit der Künstlerin Lena Ditte Nissen, die im Rahmen des Grafeneck-Projekts entstanden ist und auf der Tagung uraufgeführt und vom Publikum mit Begeisterung und auch großer Betroffenheit aufgenommen wurde. Verknüpft Lena Ditte Nissen in der von ihr entwickelten Form künstlerischen Dokumentarfilmens doch die heutige, eben auch partizipativ gestaltete Erinnerungskultur in Grafeneck mit den historischen Verbrechen und ihrer eigenen Familiengeschichte, die durch machtvolle NS-Täterschaft geprägt ist. Zu ihren Vorfahren gehören die für die NS-‚Euthanasie‘ Mitverantwortlichen, ‚Reichsgesundheitsführer‘ Leonardo Conti und ‚Reichshebammenführerin‘ Nanna Conti. Die Videoarbeit findet einen Ausdruck für die Verzerrung in ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit, die als Folge der Gefühlserbschaften einsetzt, wenn sich die Künstlerin an einem Ort wie Grafeneck der Realität der NS-Verbrechen nähert.

Die zu zehnt angereisten Grafenschrecks sind allerdings nicht nur die Stars der präsentierten Videoarbeit. Im großen Tagungsraum der Akademie Franz Hitze Haus stellten sie sich, ihre Arbeit und ihre Beweggründe („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“) auch live vor und führten eine eindrückliche Performance auf. In ihr wurde mit verteilten Rollen der Meldebogen aufgeführt, mit dem 1939/40 die Bewohner_innen der Pflegeeinrichtungen zentral erfasst, kategorisiert und ihr Todesurteil gefällt wurde. Im Anschluss an die Performance stellten die Teilnehmenden der Grafenschreck-Gruppe sich und ihre Arbeitsweise in fünf Kleingruppen vor. Die Fotos verdeutlichen, wie intensiv und kommunikativ es dabei zuging, nachdenklich und Freude machte.
 

Kunst in der Erinnerung

Ein weiteres Podiumsgespräch liess die künstlerischen Ansätze und Beweggründe Lena Ditte Nissens, der Berliner Malerin Hannah Bischof, die an mehreren Exkursionen nach Grafeneck teilgenommen hatte, und des Dottinger Künstlers Jochen Meyder greifbar werden. Bischofs Gemäldezyklus ‚Für Maria‘ zeigt das Schicksal ihrer ermordeten Großmutter - und liess diese, in der Familie lange Zeit verleugnete Opfergeschichte damit auch für die Künstlerin selbst fassbar werden. Auch in Meyders Arbeiten nimmt etwas Gestalt an. Geht es ihm doch darum, die abstrakte, unermessliche Zahl an Opfern konkreter werden zu lassen. Hierfür formte er Figuren aus Terrakotta, die individuelle Züge aufweisen, etwa 20 Zentimeter groß sind, zehntausendsechshundertvierundfünfzig an der Zahl. Eine der hieraus entstandenen Arbeiten zeigte das Projekt in diesem Herbst in der Heilig Kreuz Kirche in Münster in der gemeinsam mit Spuren Finden e.V. durchgeführten Ausstellung ‚Vergessenen begegnen / Verdrängtem begegnen‘.

Zum Schluss der Tagung las die Ulmer Autorin Vera Perkovac aus ihrem Essay „Die Poesie des Down Syndroms“. Hier ein Auszug: „Dies ist eine Erzählung über unzählige nicht geschriebene Gedichte - bis eines zur Welt kam. Ich hätte es umbringen können, dieses eine besondere Gedicht. Aus Angst vor seiner Einzigartigkeit, aus Furcht vor dem Unperfekten, aus Unwissenheit. Doch es kam auf die Welt mit dieser besonderen Buchstabenfolge, mit dieser besonderen Anzahl an Silben zwischen den Zeilen. Es wollte verstanden werden, dieses Gedicht namens Theodora. Die Erde drehte sich weiter, der Boden unter den Füßen gab Halt und der Schicksalsschlag blieb aus. (…) Ich bin erschöpft mein Kind, habe mich in Wünschen und Sehnsucht verausgabt. Lass uns auf die Felder gehen, dem unendlichen Himmel entgegen. „Ich mag Schnee“, sagst du, während die Flocken zu Boden schweben. „Magst du Schnee?“ Die spielenden Kinder vor den Garagen erwidern keinen Gruß. Das Mädchen ruft fröhlich weiter: „Hallo. Ich bin Theodora.“ Nichts scheint sie zu entmutigen. Es tat mir weh, dies zu beobachten. Ach, hätte ich nur mehr Geduld und Zuversicht gehabt, denn ein Jahr später, nachdem die Spuren im Schnee verschwunden waren, hatten die Kinder offenere Gesichter, wussten besser mit ihr umzugehen. Wenn die Welt sich in das scheinbar Unperfekte verliebt, wird das Anderssein verblassen. Vielleicht ist es wie mit den verschiedenen Hautfarben. In der Begegnung werden sie unbedeutend. (…) Diese Poesie ist feinfühlig, behutsam, mehrstimmig und angreifbar.“ (Vera Perkovac)

„Ich gehe mit einem gefüllten Rucksack nach Hause, voller Farben, Blumen und Informationen - es war eine sehr vielfältige Tagung, die mich sehr bereichert hat. Sie war vor allem fachlich so reichhaltig aus verschiedenen Perspektiven. Auf der einen Seite hat mich besonders beeindruckt die Auseinandersetzung der Sozialen Arbeit mit der eigenen Geschichte während der NS-Zeit und der Kontinuität nach 1945 bis in die Gegenwart. Auf der anderen Seite der Austausch mit den Studierenden der Sozialen Arbeit. Und jetzt zum Schluss die Lesung von einer Mutter, die betroffen ist, einer Künstlerin, die versucht poetisch zu fassen, was es bedeutet heute mit einem Menschen mit Behinderung zu Leben und das Leben zu gestalten. Das hat mit sehr viel Mut gemacht. Sonja Begalke, Stiftung EVZ
 

Text: Jochen Bonz, auf Grundlage eines ausführlichen Tagungsberichts von Dr. Bianca Ludewig sowie Eindrücken von Tagungsteilnehmenden, die Leonie Friedrich gesammelt hat.
Fotos: Nikolai Wolff / Fotoetage Bremen
 

Impressionen der Tagung

Eine Mann und eine Frau im gemeinsamen Gespräch. Professorin Dr. Dagmar Herzog im Gespräch mit Professor Dr. Jochen Bonz
Ein Mann steht hinter einen Rednerpult. Jochen Bonz stellt Professorin Dr. Dagmar Herzog von der University of New York vor
Eine Frau steht hinter einen Rednerpult. Im Hintergrund sieht man eine Powerpointfolie auf der mehrere Zitate abgebildet sind. Professorin Dr. Dagmar Herzog stellte während ihres Vortrages die Ideologie des NS-Regimes an Zitaten dar
Blick in eine Stuhlreihe in der Menschen sitzen, die letzte Person hat ein Mikrofon in der Hand.
Drei Personen im Gespräch miteinander.
Professorin Dr. Birgit Dorner stellt ihre Überlegungen zum kunstpädagogischen Arbeiten vor
Drei Schüler sitzen nebeneinander, einer von den dreien spricht in ein Mikrofon. Die Schüler der Hauptschule Coerde berichteten von ihren Erfahrungen aus dem Projekt
Studierende berichten anhand von Fotos über die Erfahrungen, die sie in der Zeit in Grafeneck erlebt hatten
Die Grafenschreckgruppe während ihrer Perfomance, diese beinhaltete unter anderem das Vorstellen des Meldebogens, mit dem die Opfer erfasst wurden
Anhand von Grafiken wurde der Ablauf der Ermordung erklärt
Die Bremer Grafikdesignerin Bianca Wessalowski stellte die Projektlogoentwicklung vor
Von den verschiedenen Workshops berichtete Dr. Nina Spöttling-Metz
Dr. Jens Gründler während der Tagung
Lena Ditte-Nissen kurz vor der Uraufführung ihrer Videoarbeit
Künstlerin Lena Ditte-Nissen, Dr. Sonja Begalke, Jochen Bonz, der Künstler Jochen Meyder, die Künstlerin Hannah Bischoff und Kathrin Bauer auf dem Podium
Sharon Blumenthal während ihres Vortrages
Professor Dr. Werner Brill von der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes
Professorin Dr. Julia Gebrande
Professor_innen Dr. Annette Eberle von der Katholischen Stiftungshochschule München, Dr. Gabriele Fischer von der Hochschule München, Dr. Julia Gebrande von der Hochschule Esslingen - und Mitglied der Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs - und Dr. Werner Brill von der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes diskutierten auf dem Podium mit Professor Dr. Jochen Bonz
Marita Barthel-Rösing im Gespräch mit Professorin Dr. Dagmar Herzog
Die Ulmer Autorin Vera Perkovac las aus ihrem Essay „Die Poesie des Down Syndroms“

Die Tagung ist Teil des kulturpädagogischen Projekts Grafeneck – Münster / 1940 – heute, das von der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit dem Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Grafeneck durchgeführt wird und eine kulturpädagogische Erinnerung an die NS-Verbrechen für Jugendliche und junge Erwachsene gestalten will. Das Projekt wird in der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.

Prof. Dr. Jochen Bonz

Ansprechperson

Prof. Dr. Jochen Bonz

Professor

Münster, Sozialwesen

2025 Projekt Grafeneck katho Münster Nachbericht
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