Theaterbesuch: „Was wir uns nicht vorstellen können, erkennen wir nicht“
„Dieses Gefühl der Scham, das ist unbeschreiblich groß. Du bist ein Außenseiter. Du gehörst nicht mehr zu dieser Welt.“ So leitet Melanie Hach, Betroffene von sexualisierter Gewalt und eine der fünf Akteur_innen auf der Bühne, das Theaterstück „Kinderhäuser“ ein. Sie erlebte ab ihrem ersten Lebensjahr sexualisierte Gewalt durch ihren Großvater, später über mehrere Jahre durch drei jugendliche Mitbewohner und einen Priester in einer münsterischen Heimeinrichtung. Martin Schmitz, ein weiterer Akteur, erlebte in seiner Kindheit als Messdiener schwerste Vergewaltigungen durch den Priester seiner Kirchengemeinde. Unter der Regie von Karen Breece inszenierten sie gemeinsam mit drei Schauspieler_innen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen in dem dokumentarischen Theaterstück „Kinderhäuser“. Wie der Titel schon erahnen lässt, wird auch der münsterische Missbrauchskomplex, der 2020 publik wurde, thematisiert.
Explizite Opfer-Berichte und drastische Tatbeschreibungen sind Teil des Stückes, das die Menschen im Publikum emotional stark fordert. Begleitet werden diese durch plötzliche laute Geräusche, Blitzlichte und Videoprojektionen, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Vor dem Stück findet ein Vorgespräch mit dem Publikum statt, welches die Entstehungsgeschichte thematisiert. Im Anschluss findet ein weiteres Publikumsgespräch statt, in welchem die Besucher_innen allen Schauspieler:innen und den beiden Betroffenen Fragen zu ihren Erfahrungen und auch Perspektiven z. B. auf die Entwicklung präventiver Angebote stellen können.
Die Inszenierung wühlt emotional sehr auf und löst bei den Studierenden unterschiedliche Gefühle von Trauer, Fassungslosigkeit, Ohnmacht, Ekel bis hin zu Wut aus. Aber auch Fragen nach ihren Möglichkeiten als Menschen, Bürger_innen und auch angehende Sozialarbeiter:innen in Fällen sexualisierter Gewalt: Wie erkenne ich, dass ein Kind sexualisierte Gewalt erlebt? Wie kann ich ein Kind schützen? Wie spreche ich mit einem Kind über dieses Thema? Wie spreche ich mit den Täter_innen, wenn es sich um Elternteile oder andere Personen aus dem engen Umfeld eines Kindes handelt? An wen kann ich mich selbst wenden, wer kann mich in solchen Situationen unterstützen?
Trotz der teils überwältigenden Intensität der Gefühle und der tiefen Resonanz, die das Stück bei den Studierenden auslöste, und obwohl – oder gerade weil – einige noch lange darüber nachdenken mussten, bewerten die Studierenden den Theaterbesuch als äußerst ertragreich und einen großen Gewinn. Eine Nachbereitung des Abends wird in den nächsten Seminarsitzungen erfolgen.
Text: Prof. in Dr.in Judith Haase
KONTAKT
Prof. Dr. Judith Haase
Beauftragte für den Bereich Praxis & Supervision (Soz. Arbeit) / Representative for the area of practice & supervision (social work)
Münster, Sozialwesen