„Wir brauchen das Dorf zurück“: Zweiter Kongresstag erarbeitet Ansätze für Transformationen
Mit einem Video-Grußwort wandte sich Svenja Schulze (SPD), Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, an die Teilnehmenden. Sie betonte, dass sie in ihrer Arbeit die ungleichen Machtverhältnisse neugestalten möchte. Dabei sei ihr der feministische Blick stets besonders wichtig, denn nur wenn alle Menschen gleichberechtigt sind, werde die Welt krisensicherer sein: „Ich setze mich dafür ein, die Rechte und Ressourcen von Frauen zu stärken“, sagte sie und betonte, dass Hochschulen und die Wissenschaft dabei eine wichtige Rolle spielten. Sie vermittelten Wissen und Fähigkeiten, sie lehrten den Menschen, ihr Handeln kritisch zu hinterfragen, und die Forschung treibe neue Technologien voran.
„Wir brauchen das Dorf zurück“
Mit der Leitfrage „Es muss sich was ändern, aber wie?“ eröffnete Marina Weisband ihre Keynote. Die Politikerin und Publizistin erklärte in ihrem Vortrag das emotionale Bedürfnis der Menschen, an Verschwörungstheorien zu glauben: „Wir leben in einer komplexen, sich rasch wandelnden, digitalisierten Welt mit vielen grundsätzlichen Veränderungen“, sagte sie. Das sei für Menschen schwer zu ertragen, die mit der Komplexität überfordert seien und sich in der Opferrolle begreifen. Dann kämen Verschwörungstheoretiker mit ihrem Versprechen gut an, alles anders zu machen, sobald sie an der Macht sind.
Weisband kritisierte die Abhängigkeit vom Wachstum, wonach Freiheit mit einem eigenen Auto und Reichtum mit einem eigenen Haus verbunden werde. „Aber wir können die Art ändern, wie wir wirtschaften“, machte die Politikerin Mut. „Wir alle wachsen in diese Konsument_innenrolle hinein und ständig werden Bedürfnisse geweckt, so dass wir uns in den Innenstädten nur noch als Kund_innen bewegen können, kaum mehr als Bürger_innen“, so Weisband, „mein Ziel ist es, aus Konsument_innen Gestalter_innen zu machen.“ Dies könne gelingen, wenn jeder_r als aufgeklärte_r Nutzer_in Verantwortung lernen kann. Dazu ist es wichtig, dieser erlernten Hilflosigkeit durch Selbstwirksamkeitserfahrung zu entkommen – mit passenden Räumen, in denen Menschen Verantwortung tragen, in den Vereinen, Kitas, Schulen, Kommunen, Gemeinden und am Arbeitsplatz: „Das geht mit aktiver Mitgestaltung“, erklärte Weisband, „wir brauchen das Fachwissen und die Meinung aller, die Solidarität und die direkte Hilfe – kurzum: Wir brauchen das Dorf zurück.“
Mehr Beteilung von Kindern und Jugendlichen in den Schulen wichtig
Von den Politiker_innen verlangte sie, ihre Ziele, wie die Gesellschaft aussehen soll, sowie ihre Entscheidungsgrundlagen und Entscheidungen klar zu kommunizieren – auch die eigenen Unsicherheiten, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Das könne helfen, aus der erlernten Hilflosigkeit herauszukommen, die auch viele Schüler_innen zeigten, da sie Schule als autoritären Raum wahrnehmen und in dem sie nur das Wissen für den nächsten Test lernen. „Wir brauchen mehr Geld für Schulen, wir brauchen dort multiprofessionelle Teams, denn nicht alle wertvolle Arbeit für die Gesellschaft ist Erwerbsarbeit“, sagte Weisband, die sich mit ihrem Beteiligungsprojekt aula.de für mehr Verantwortung und Eigenständigkeit von Schüler_innen an Schulen engagiert.
Soziale Ungleichheit führt zu Frustration, Krisen und Konflikten
Zur Rolle von Bildung und Empowernment in der sozialen Transformation sprach im Anschluss Marthe Wandou aus Kamerun. In ihrem Land gebe es bei der Bildung riesige Klüfte. Schon in den Schulklassen sind Klassen mit bis zu 200 Kindern keine Seltenheit. Auch nähmen vor allem die Mädchen nicht am Unterricht teil. Um ihnen eine zweite Chance auf Bildung zu ermöglichen, hat Wandou die Organisation „Action Locale pour un Développement Participatif et Autogéré“ (ALDEPA) gegründet, die Mädchen eine Chance auf Grundbildung oder das Erlernen von Fertigkeiten für einen Beruf gibt. Denn in der kamerunischen Gesellschaft haben die meisten Mädchen und Frauen keinen Zugang zu Bildung, da sie sehr früh verheiratet werden und damit gesellschaftlich rehabilitiert sind. „Dabei ist Bildung so wichtig, weil sie Menschen die Möglichkeit gibt, aktiv an der Gesellschaft teilzunehmen“, sagte Wandou in ihrem anschaulichen Vortrag, „soziale Ungleichheit führt zu Frustration, die wiederum Krisen und Konflikte auslöst – deren Anstieg sieht man derzeit weltweit.“ Wegen ihres Engagements wird Wandou im eigenen Land oft angefeindet, vor allem von Eltern, die an ihren Traditionen festhalten wollen und die Mädchen früh verheiraten anstatt eine Veränderung herbeizuführen. Auch auf politischer Ebene erlebe man, dass der Widerstand gegen den Wandel die größte Herausforderung ist.
Erfolge trotz Widerstand aus eigenem Land
Dennoch hat die Gender- und Friedensaktivistin mit ihrer NGO erreicht, dass 2016 ihre Empfehlung gegen Zwangsehen und sexuellen Missbrauch in ein Gesetz im Zuge des reformierten Strafgerichtssystem in Kamerun aufgenommen wurde, dass einige Hotels keine jungen Mädchen mehr zum Missbrauch anbieten, wie es in Kamerun sehr verbreitet ist, und dass Lehrkräfte ihre Schüler_innen nicht mehr schlagen dürfen. Trotzdem bleibt die große Herausforderung der Kampf gegen den fehlenden kulturellen Willen, etwas an den Traditionen und am patriarchalen System zu ändern – auch eine Aufgabe, die sich Wandou und ihre NGO auf die Fahne geschrieben haben. Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit ist auch, die vielen von der Terrororganisation Boka Haram entführten Frauen psychologische Unterstützung bei der Traumabewältigung zu geben. Auch mit den Regierungen bleibt Wandou im Gespräch und ermöglichte so eine zweitägige Frauenkonferenz, denn: „Das, was am wichtigsten ist, ist Handeln! Und wir müssen unsere gemeinsame Verantwortung akzeptieren und vor Ort lokal und global handeln!“, unterstrich Wandou in ihrer couragierten Rede.
„Wir haben vergessen, die Menschen mit auf die Reise zu nehmen“
In der anschließenden Gesprächsrunde, die wie am Vortag von Prof.in Dr.in Karla Verlinden und Prof. Dr. Sebastian Laukötter moderiert wurde, drehte es sich auch um Bildung, Beteiligung, Gerechtigkeit und Gemeinschaft und wie hier die Transformationen gelingen können. Darin rief Marina Weisband dazu auf, die Politik emotional zu denken und weniger ins Verwalten zu verfallen: „Wir haben vergessen, die Menschen mit auf die Reise zu nehmen“, sagt die Politikerin. Aus Sicht von Marthe Wandou tut die deutsche Außenpolitik schon sehr viel und unterstützt Kamerun bereits seit zehn Jahren. Hilfreich wäre eine verstärkte Lobbyarbeit und ein wachsames Auge auf die Einhaltung von internationalen Restriktionen zu haben.
Panels sowie Stadt- und Domführung runden zweiten Tag ab
In den anschließenden Panels drehten sich alle um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, Rassismus-Kultur-Macht, Gewalt und Gewaltschutz sowie um die digitale Transformation im Gesundheitswesen. Die engagierten Referent_innen erörterten mit den Teilnehmenden die drängenden Fragen der Transformation. Es schlossen sich eine Exkursion ins Rheinische Revier und eine Stadtführung durch Köln-Riehl an, ehe sich die interessierten Gäste am späten Abend im Dom zu einer Domführung bei Nacht trafen, die gegen Mitternacht endete.