„Zukunft Bildung: Wie geht das?“ – Podiumsdiskussion im Rahmen von Uni im Rathaus
Auf dem Podium vertreten waren Prof. Dr. Christian Timo Zenke (Lehr- und Forschungsgebiet Innovation und Transfer in Bildungssystemen, RWTH Aachen) sowie Prof. Dr. Sven Kommer (Lehr- und Forschungsgebiet Didaktik und Digitale Bildung, RWTH Aachen). Die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen (katho) wurde durch Prof. Dr. Dominik Farrenberg, dessen Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Sozialpädagogik und Kindheitsforschung liegen, repräsentiert. Komplettiert wurde die Runde durch Ilona Orlikowski, Schulleiterin der Grundschule am Aachener Fischmarkt.
Moderiert wurde die Veranstaltung von Marie Ludwig (WDR), die den Auftakt mit einer Einstiegsfrage gestaltete: Wie würden Sie Bildung mit einem Wort beschreiben? Prof. Dr. Dominik Farrenberg, der auch Mitglied im Institut für angewandte Bildungs- und Diversitätsforschung der katho ist, verglich den Bildungsbegriff mit einem „Chamäleon“ – ein Bild, das auf die Vielschichtigkeit und Kontextabhängigkeit von Bildung verweist.
Was ist Bildung?
Im Verlauf der Diskussion stellte Farrenberg die grundlegende Frage: Was verstehen wir eigentlich unter Bildung – und welchen Bildungsbegriff legen wir zugrunde, wenn wir von Bildungsgerechtigkeit sprechen? Das Bild von Bildung als Chamäleon weiter konkretisierend macht er darauf aufmerksam, dass Bildung einerseits als das Instrument zum Schaffen von Chancengleichheit schlechthin verstanden wird, und dabei in ambivalenter Weise andererseits selbst immer wieder neue Ungleichheiten hervorbringt und weiterfortsetzt, indem qua Bildung unweigerlich in Mehr- und Weniger-Gebildete unterschieden wird.
Weiterhin betont er, dass Bildung in der öffentlichen Wahrnehmung häufig erst dann in den Fokus rückt, wenn Schulleistungsstudien Defizite aufzeigen. Abseits solcher Anlässe, so Farrenberg, erfahre Bildung in der medialen und politischen Debatte oftmals zu wenig Aufmerksamkeit, obwohl sie eine zentrale Grundlage gesellschaftlicher Teilhabe darstellt.
Diese Einschätzung teilte auch Schulleiterin Ilona Orlikowski, die auf die zunehmende Heterogenität der Schülerschaft hinwies. Diese Vielfalt bringe Herausforderungen mit sich, die lange Zeit unterschätzt oder übersehen worden seien. Aus ihrer Perspektive bestehe eine zentrale Aufgabe der Grundschule darin, Kinder zunächst zu Lernenden werden zu lassen – also grundlegende Lernhaltungen und Selbstlernkompetenzen zu fördern.
An diesem Punkt lenkte Farrenberg die Diskussion auf die Bedeutung der vor- und außerschulischen Bildung. Der Bildungsprozess beginne, so seine Argumentation, weit vor dem Schuleintritt. Insbesondere die frühkindliche Bildung spiele eine entscheidende Rolle für die Entwicklung individueller Lernvoraussetzungen und Bildungschancen.
Räumliche Bedingungen und Bildungsprozesse
Im weiteren Verlauf der Diskussion rückte die Bedeutung schulischer Architektur für Bildungsprozesse in den Mittelpunkt. Dieses Themenfeld bildet einen zentralen Schwerpunkt der Forschung von Prof. Dr. Christian Timo Zenke, der unter anderem die Bielefelder Laborschule – eine „Versuchsschule des Landes Nordrhein-Westfalen“ (gegründet 1974) – wissenschaftlich begleitet. Die Laborschule dient seit ihrer Gründung als institutioneller Experimentierraum zur Erprobung und Weiterentwicklung innovativer Formen des Lehrens und Lernens.
Zenke leitete seine Ausführungen mit einer Frage an die Moderatorin ein: Auf welcher Seite befand sich das Fenster Ihrer Grundschule? Die Antwort „links“ nahm er zum Anlass, auf historische Aspekte schulischer Baukonzepte hinzuweisen. Die Anordnung von Fenstern auf der linken Seite der Klassenräume geht auf eine architektonische Leitlinie zurück, die auf der Annahme basierte, alle Schüler_innen seien Rechtshänder_innen. Damit beim Schreiben kein Schatten auf das Papier fiel, wurde Tageslicht gezielt von links eingeplant.
Zenke plädierte dafür, die architektonische Planung zukünftiger Schulgebäude stärker an pädagogischen Leitbildern und didaktischen Konzepten auszurichten. Ausgangspunkt sollte nicht die bauliche Struktur, sondern die Frage sein, welche Formen des Lernens und Lehrens (z. B. Frontalunterricht, Gruppenarbeit, projektorientiertes Lernen) an der jeweiligen Schule realisiert werden sollen. Architektur und Pädagogik müssten, so Zenke, in einem wechselseitigen Entwicklungsprozess gedacht werden.
Schule als Ort demokratischer Erfahrung
Prof. Dr. Sven Kommer betonte in seinen Redebeiträgen die Funktion von Schule als gesellschaftlicher Begegnungsraum und als zentralen Ort demokratischer Sozialisation. Schulen seien nicht allein Lernorte im engeren Sinne, sondern Räume, in denen gesellschaftliches Zusammenleben erfahrbar und demokratische Praktiken eingeübt werden.
Vor diesem Hintergrund kritisierte Kommer die verbreitete Vorstellung, Bildung könne vollständig individualisiert und in private Lernkontexte verlagert werden – Bildung, so Kommer, sei ein durch und durch sozialer Prozess. Ergänzend hierzu fügt Dominik Farrenberg an, dass Bildung immer auch Momente des Widerfahrens umfasse: deswegen könne man sich zwar vornehmen, sich zu Hause hinzusetzen und zu lernen, aber ob sich darüber dann (auch) Bildung ereigne, sei nicht planbar oder steuerbar. Beide Fachleute waren sich einig: Man müsse sich Bildung aussetzen, sie ereigne sich im Austausch, in der Auseinandersetzung und im gemeinsamen Handeln.
Diese Überzeugung übertrug Sven Kommer auch auf die demokratische Bildung. Demokratie müsse nicht nur vermittelt, sondern im schulischen Alltag praktisch erprobt und gelebt werden. Konflikte in Schulklassen sollten daher nicht primär an externe Fachkräfte – etwa Schulsozialarbeiterinnen und -sozialarbeiter – delegiert, sondern im Klassenverband bearbeitet werden. Zwar seien solche Aushandlungsprozesse oft mühsam, doch bildeten sie zentrale Lerngelegenheiten für die Entwicklung sozialer und demokratischer Kompetenzen.
Zur Aussagekraft schulischer Leistungsbewertungen
Im abschließenden Teil der Diskussion stand die Frage im Mittelpunkt, inwieweit schulische Leistungsbewertungen – insbesondere Noten – tatsächlich Aufschluss über die Fähigkeiten, Potenziale und Bildungsprozesse von Schülerinnen und Schülern geben können. Damit schloss sich thematisch der Kreis zur einleitenden Leitfrage Was ist Bildung?
Die Diskussion machte deutlich, dass schulische Bewertungssysteme nicht neutral sind, sondern auf spezifischen, historisch gewachsenen Verständnissen von Bildung beruhen. Abschließend resümmiert Farrenberg: Welche Kompetenzen, Wissensformen und Ausdrucksweisen als bildungsrelevant gelten, ist aller gesellschaftlicher Heterogenität zum Trotz nach wie vor eng an ein bürgerlichen Verständnis von Bildung gekoppelt.
Prof. Dr. Dominik Farrenberg
Prodekan II / Studiengangsleitung Bachelor Soziale Arbeit; Professur für Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit, Schwerpunkt: Sozialpädagogische Zugänge
Aachen, Sozialwesen