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Forum an der Piusallee: „Missbrauch wird vertuscht, um ein vermeintlich höheres Ziel zu retten“

Das Forum an der Piusallee an der katho am Standort Münster beschäftigte sich diesmal mit den Dynamiken des Missbrauchs in Institutionen. Über 220 Besucher_innen verfolgten die Vorträge von Historiker Prof. Dr. Thomas Großbölting und Filmemacher Christoph Röhl.

Die beiden Gäste Christoph Röhl (2.v.l.) und Prof. Dr. Thomas Großbölting (2.v.r.) mit den beiden Moderierenden der katho Prof. Dr. Sebastian Laukötter und Prof.in Dr.in Ursula Tölle.

Bis auf den letzten Platz besetzt war der große Hörsaal der katho anlässlich der 13. Ausgabe des Forums an der Piusallee. Neben den über 150 Gästen vor Ort nutzten mehr als 70 Personen die Möglichkeit, sich digital zu der Veranstaltung zuzuschalten. Co-Moderatorin Prof.in Dr.in Ursula Tölle freute sich in ihren Begrüßungsworten über die breite Resonanz aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen und hieß ausdrücklich auch die zahlreich anwesenden Studierenden willkommen.

Das Interesse am Thema „Missbrauch hat System – Über Dynamiken des Missbrauchs in Institutionen“ war also groß und die beiden angekündigten Referenten versprachen vielschichtige und spannende Perspektiven auf die Frage, welche systemischen Ursachen und Voraussetzungen des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in Institutionen wie der katholischen Kirche oder der Odenwaldschule identifiziert werden können.
 

Systematischer Missbrauch benötigt auch ein Umfeld, das Vertuschung betreibt 

Ziel des Abends war es, den Blick für einen Moment weg von der Persönlichkeit der Täter zu nehmen und stattdessen genauer auf die systemischen Strukturen hinter den Missbrauchstaten zu schauen. „Ein rein personenbezogener Blick reicht nicht aus“, so Tölle. Systematischer Missbrauch benötigt auch ein Umfeld, das Vertuschung betreibt und dann später selbst gewissermaßen die Vertuschung zu vertuschen versucht. Dies haben geschlossene Systeme wie die Odenwaldschule an sich, wo unter Leitung Gerold Beckers in den 1970er und 1980er Jahren viele hunderte Schülerinnen und Schüler systematischem Missbrauch ausgesetzt waren.

Prof. Dr. Sebastian Laukötter, der gemeinsam mit Ursula Tölle durch den Abend führte, formulierte als Ziel eine „Sensibilisierung“ für die Dynamiken von Missbrauch. Nach einem einführenden Dialog der Referenten über ihre methodische Vorgehensweise in der Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch in Institutionen – nämlich der Einnahme einer narrativen Perspektive – schritt zunächst der Regisseur und Filmemacher Christoph Röhl für einen Impulsvortrag ans Rednerpult. Bezugnehmend auf seinen preisgekrönten Film „Die Auserwählten“ über den Missbrauch an der Odenwaldschule benannte Röhl als zentrale Frage des Filmes: „Was wissen wir und wie gehen wir mit diesem Wissen um – und warum gucken wir weg?“ Die unter den Lehrkräften an der Odenwaldschule in weiten Teilen verbreitete Haltung charakterisierte Röhl mit den Worten: „Weil wir etwas Besonders sind, gelten für uns andere Regeln als für die Außenwelt“.
 

Gaslighting als manipulative Methode bei Opfern angewandt 

Dies zeigt sich beispielsweise auch in der Anwendung manipulativer Methoden wie des „Gaslightings“: Den Opfern wird durch Lügen, Einschüchterungsversuche und Unverständnis für deren Wahrnehmung der Realität suggeriert, dass sie sich nur einreden, dass etwas „nicht in Ordnung sei“ – und zwar oft so lange bis die Opfer selbst an ihrem Verstand zu zweifeln beginnen. Gaslighting findet dabei auch auf institutioneller Ebene statt, zum Beispiel in der Odenwaldschule aber auch in der katholischen Kirche. „Die Vertreter der Institutionen manipulieren, verblenden Menschen so sehr, dass diese nicht mal mehr auf die Idee kommen, dass hinter der glänzenden Fassade der Institution das Grauen stattfindet“, so Röhl weiter.


Missbrauch in der Institution Kirche wird vertuscht, um die Priesterweihe zu retten

Der Historiker Thomas Großbölting begann seinen kurzen Vortrag im Anschluss mit einem Blick auf die in der Münsteraner Missbrauchsstudie für das Bistum Münster erhobenen Zahlen: „Etwa 4,5 Prozent der Kleriker seit Kriegsende werden beschuldigt, sexuellen Missbrauch begangen zu haben.“ Dieser reiche von anzüglichen Witzen bis hin zur vielfachen Vergewaltigung. „Das ist ein kleiner Teil des Klerus', aber ein bedeutender Teil des Klerus'.“ Um auf die Bedeutung des Umfeldes von Missbrauchstätern aufmerksam zu machen, erinnerte Großbölting an ein bekanntes afrikanisches Sprichwort, nachdem ein ganzes Dorf notwendig sei, um ein Kind zu erziehen und nennt eine Abwandlung des Zitats aus dem Film „Spotlight“ aus dem Jahr 2015. „Genauso kann man sagen, es benötige ein ganzes Dorf, um ein Kind zu missbrauchen“.

Als eine Art Paradebeispiel für eine Institutionskultur, die systematischen Missbrauch ermöglicht und vertuscht, benannte der Historiker die Personalkonferenzen in den Bistümern – ein Gremium aus Klerikern (bis 2009 nur aus geweihten Männern bestehend), das u.a. über den Umgang mit Klerikern entscheidet, die „Probleme machen“ – und dann in der Regel oft nur an einen anderen Ort versetzt wurden, wo sie nicht selten weitermachen, so wie sie an ihrer letzten Wirkungsstätte aufgehört haben. Missbrauch wird vertuscht, um ein vermeintlich höheres Ziel zu retten: „Man erlaubt dem Täter, sein Priesterdasein weiter zu ermöglichen, um die Priesterweihe zu retten.“ Um also das Amt nicht zu beschädigen, vermeiden Institutionen wie die Kirche eine Rollendifferenzierung. So sei zum Beispiel der Kardinal in den Personalkonferenzen gleichzeitig Kollege, Personalverantwortlicher, Seelsorger und Richter in einer Person. Rollendiffusion fördert eine Kultur von Grenzverletzungen.

Ein besonderes systemisches Problem ergibt sich bei der Kirche auch aus der besonderen Sexualmoral der Institution, so Großbölting – kurz gesagt: Sex nur zwischen verheirateten Männern und Frauen mit dem Ziel der Fortpflanzung. Die Diskrepanz zwischen diesem Anspruch einerseits und der Realität des systemisch gedeckten Missbrauchs andererseits begünstigt die Vertuschung in besonderer Weise, so der Historiker, der auch wissenschaftliche Leiter der Missbrauchsstudie für das Bistum Münster war.
 

Die katholische Kirche bemüht sich, aber die Machtverhältnisse sind weiterhin zementiert

Nach den beiden Impulsvorträgen und dem anschließenden moderierten Podiumsgespräch zwischen den Referenten hatten die Zuhörerinnen und Zuhörer nach der Pause die Möglichkeit für Fragen und Rückmeldungen. Dabei ging Großbölting unter anderem auf die Frage ein, welche Schritte insbesondere die katholische Kirche nun geht und welche Chancen er hier sieht. Seine Antwort fiel eher verhalten aus: „Die Kirche hat sich seit 2010 durchaus bemüht, beispielsweise indem man Schutzkonzepte in Einrichtungen entwickelt hat – aber wie man an die zementierten Machtverhältnisse herangehen will, die Missbrauch systemisch begünstigen, das zeigt sich bislang noch nicht.“

Den letzten Akzent setzte Christoph Röhl, der auf die Verantwortung jedes Einzelnen hinwies: „Ängste, uns mit Missbrauch auseinanderzusetzen, hindern uns daran, Missbrauch präventiv zu begegnen“. Dieses vermeidende Verhalten merke man in besondere Weise im Umgang mit (nunmehr) erwachsenen Opfern sexuellen Missbrauchs.

Und so rückte am Ende dieser Veranstaltung, die sich vornehmlich mit den systemischen Gründen und begünstigenden Faktoren von Missbrauch beschäftigte, doch auch wieder die Verantwortung des Individuums in den Blick:  „Überall dort, wo etwas passiert, wo etwas nicht in Ordnung ist – wo zum Beispiel ein frauenfeindlicher Witz erzählt wird – bereits da muss jemand aufstehen und sagen: ‚Stopp! So geht das nicht!‘“

Text: Prof. Dr. Johannes Nathschläger

 

Impression vom Forum an der Piusallee

Filmemacher Christoph Röhl wies auf die Verantwortung jedes Einzelnen hin: „Ängste, uns mit Missbrauch auseinanderzusetzen, hindern uns daran, Missbrauch präventiv zu begegnen“ (Fotos: Anette Quarterman/katho)
Der Historiker Prof. Dr. Thomas Großbölting meinte, Missbrauch werde vertuscht, um ein vermeintlich höheres Ziel zu retten.
Die Teilnehmenden sitzen auf dem Podium und diskutieren.
Ein Hörsaal mit vielen Zuschauern, die in Reihen sitzend dem Vortrag zuhören. Der Hörsaal der katho Münster war bis auf den letzten Platz gefüllt.

Kontakt

Prof. Dr. Ursula Tölle

Professorin

Münster, Sozialwesen

Prof. Dr. Sebastian Laukötter

Prof. Dr. Sebastian Laukötter

Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Ethik

Münster, Sozialwesen

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