Studieren, arbeiten und leben mit ADHS als Erwachsene_r: Wie geht das?
Der Abend in der gut besetzten Aula, moderiert von Thorsten Pracht (Medienhaus Aachen), beginnt mit einer Begrüßung durch Prof.in Dr.in Marion Gerards, die die Veranstaltung einbettet in den Gesamtkontext des Projekts „katho divers“:
„Im Rahmen der Initiative der Hochschulrektorenkonferenz ‚Vielfalt an deutschen Hochschulen‘, gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, hat sich die katho auf den Weg gemacht, eine diversitätsreflexive und diskriminierungskritische Kultur und Struktur zu entwickeln. Am Standort Aachen wurde im vergangenen Semester der Schwerpunkt auf das Thema ‚Studieren und arbeiten mit nicht-sichtbaren Beeinträchtigungen‘ gelegt. Das Aachener Planungsteam wollte mit der Lesung von Angelina Boerger dieses Thema am Beispiel von ADHS nicht nur hochschulintern, sondern mit der interessierten Öffentlichkeit diskutieren.“
Angelina Boerger, Aachenerin und Journalistin, die mit Ende 20 die Diagnose ADHS erhielt, hat ihre Erlebnisse auf dem Weg zur ADHS-Diagnose schriftlich und auf eine unterhaltsame Art und Weise in dem Buch ‚Kirmes im Kopf‘ festgehalten. Sie tourt durch Deutschland, gibt Lesungen und betreibt einen Instagram-Kanal mit 89.600 Followern (Stand 08.04.24); dabei ist die aktive Aufklärungsarbeit zum Thema ADHS im Speziellen und Neurodiversität im Allgemeinen ihr Anliegen.
Im Dialog mit Karin Henshen, Transferreferentin an der katho, beschreibt sie auf der Bühne ihre Alltagsstrategien, die teilweise aus Anpassen, Notlügen, Überspielen bestehen, damit sie in der Gesellschaft, die sie als ‚anders tickend‘ empfindet, auch ‚bestehen‘ kann und nicht dauernd aneckt. Dabei war es ihr sehr lange Zeit gar nicht bewusst, warum das so ist. Bis sie mit ihrer Mutter an einer Aufzeichnung zur WDR-Fernsehsendung von Domian teilnahm und dort eine Anruferin von ihrer ADHS berichtete. Ihr wurde schlagartig bewusst: Diese Frau agiert genauso wie ich, die hat die gleichen Probleme wie ich. Ihre Recherchearbeit zu ADHS im Erwachsenenalter begann. Es war wie ein Aha-Erlebnis, sie bekam Antworten auf viele Fragen, die sich ihr schon lange stellten. Sie vertiefte ihre Recherchearbeit nach Diagnostikmöglichkeiten für Erwachsene.
Hier hakt Karin Henshen während der Lesung ein und fragt nach, warum ihr die Diagnose so wichtig war, wenn es für sie selbst doch so klar erschien, dass sie ADHS hatte.
Boerger macht deutlich, dass eine Diagnose wichtig ist, weil nur so der Weg ins Hilfesystem geöffnet wird, nur so gibt es Zugang zu Medikamenten oder Therapien wie dem Neurofeedback. Und auch nur mit Diagnose ist es zum Beispiel möglich, einen Nachteilsausgleich für Prüfungen an der Hochschule erhalten.
Genau an diesem Punkt setzt die Podiumsdiskussion an, welche sich nach einer kurzen Pause an die Lesung anschließt. Auf dem Podium sitzen zwei Vertreterinnen aus der Jungen Selbsthilfe Aachen, Julia N., Studentin, und Maike E., Wissenschaftlerin. Bei beiden wurde ADHS diagnostiziert. Sie berichten, was es bedeutet, mit ADHS zu studieren und wissenschaftlich zu arbeiten. Tanja Leidert, Neurologin aus Aachen, in deren Praxis ADHS-Diagnostik erfolgt, skizziert auf dem Podium den Diagnoseweg, mögliche Begleiterkrankungen bei ADHS und auch medikamentöse Unterstützungsmöglichkeiten. Komplettiert wird die Runde durch Prof.in Dr.in Sina Eghbalpour, Professorin für Theorien und Konzepte der Sozialen Arbeit an der katho, mit Schwerpunkt Sport und Inklusion.
Sie richtet ihren Blick zunächst zurück. Im Wintersemester 2022 / 23 führte sie eine Sprechstunde für Menschen mit nicht-sichtbaren Beeinträchtigungen ein. Sie wollte wissen, wie es Studierenden mit nicht-sichtbaren Beeinträchtigungen an der katho geht. Welche Unterstützungsmöglichkeiten benötigen sie? Die Sprechstunde war sehr nachgefragt, Studierende mit einer Lese-Rechtschreibschwäche, psychiatrischen Erkrankungen wie einer Depression oder Angststörung meldeten sich genauso wie Studierende mit ADHS. Die Gesprächsbedarfe waren hoch, die Frage nach Unterstützungsmöglichkeiten, um das Studium an der katho gut zu meistern, wurde immer wieder formuliert. Wie kann ein Nachteilsausgleich für Studierende mit ADHS aussehen?
Prof.in Dr.in Sina Eghbalpour macht deutlich:
„Der klassische Nachteilsausgleich für Studierende mit Beeinträchtigung sollte überarbeitet und angepasst werden, aber auch bei nicht-sichtbaren Beeinträchtigungen gilt, dass die Qualität des Studiums und die Vergleichbarkeit von Prüfungsleistungen nicht verringert bzw. abgeschwächt oder herabgesetzt werden kann.“
Sina Eghbalpour fordert am Abend weiterhin, dass es zwingend eine strukturelle Verankerung einer unabhängigen Beratungsstelle für alle Studierenden mit Beeinträchtigung an der Hochschule bedarf. So soll vermieden werden, dass Studierende zu ihr in die Beratung kommen, private Dinge über ihre Beeinträchtigung berichten und ihr dann in einer ihrer Lehrveranstaltungen oder in einer Prüfungssituation wieder begegnen. Um dies zu vermeiden, verweist sie bislang auf die unabhängige Sozialberatung des Studierendenwerks Aachen.
Für uns als Hochschule, die Sozialarbeitern_innen ausbildet, ist das Thema ADHS noch auf einer weiteren Ebene relevant: Neben der Frage, wie es sich an der katho gut mit ADHS oder anderen Beeinträchtigungen studieren lässt, stellt sich auch die Frage nach der Relevanz von ADHS als Lehrinhalt, also: Was sollten Absolvent_innen eines Studiums in der Sozialen Arbeit über ADHS wissen?
„Das Studium ist generalistisch, einzelne Störungsbilder sind also immer exemplarisch zu verstehen. Und da dies kein Studium im Bereich der Psychiatrie ist, werden wir dieses Feld nie umfassend und in vergleichbarer Tiefe abdecken können. Stattdessen befasst sich die Soziale Arbeit eher mit der Frage, wie ein inklusiver, diversitätssensibler Umgang mit ganz unterschiedlichen Menschen, ihren Eigenschaften und ggfs. besonderen Unterstützungsbedarfen aussehen kann und sollte“,
skizziert Dr.in Julia Breuer-Nyhsen vom Planungsteam der Veranstaltung die Situation im Pressegespräch, welches vor der Veranstaltung stattgefunden hatte. Sie führt fort:
„Wichtig ist uns nicht immer wieder, einzelne und wechselnde Schwerpunkte reaktiv zu ‚bedienen‘, sondern stattdessen den inklusiven Gedanken der Diversitätssensibilität ernst zu nehmen. Die Betonung einzelner Aspekte ist dann eher als beispielhafte Vertiefung wichtig, an der aber immer auch Fragen deutlich werden, die in der Sozialen Arbeit mit anderen Aspekten oder Störungsbildern entscheidend sind.“
Wie kann es gelingen, dass die Gesellschaft sensibler für die Diversität ihrer Mitbürger_innen wird?, diese Frage beschäftigte nicht nur die Podiumsteilnehmer_innen an dem Abend, sondern auch das Auditorium in der Aula. Moderator Torsten Pracht bindet nach einer regen Podiumsdiskussion das Publikum mit ein und bittet die versammelten Betroffenen, Angehörigen und Interessierten ihre Fragen an das Podium zu stellen.
Es werden viele Fragen an Angelina Boerger, aber auch Tanja Leidert als Neurologin gestellt, ein Mann aus dem Publikum macht am Ende Angelina Boerger den Vorschlag, dass sie als nächstes ein Buch für Angehörige schreiben solle.
Nach dem offiziellen Teil bilden sich in der Aula und Cafeteria viele kleine Gesprächsgruppen. Bei Getränken und Keksen wird sich rund um den Büchertisch der Buchhandlung Worthaus intensiv ausgetauscht, Angelina Boerger signiert ihre Bücher und immer wieder wird die Frage formuliert: Wie geht es jetzt weiter? So eine Veranstaltung kann immer nur der Auftakt eines Diskurses sein, der aber nicht versanden sollte; Prof.in Dr.in Marion Gerards fasst die nächsten Schritte zusammen:
„Auch nach Ablauf des katho-divers-Semesters wird die katho an den Themen weiterarbeiten. Am 29.4.2024 findet zunächst ein Vielfalts-Forum in Köln statt, auf dem die Ergebnisse der Status-Quo-Analyse zu Diversität und Diskriminierungserfahrungen an der katho präsentiert werden. Diese Veranstaltung ist öffentlich und kann von allen Interessierten besucht werden. Dort werden zudem die Aktivitäten an allen Abteilungen und die damit verbundenen „Lessons learned“ diskutiert sowie die weiteren Schritte vorgestellt. Dies sind insbesondere: Entwicklung einer Diversitätsstrategie, Etablierung eines allgemeinen Beratungs- und Beschwerdemanagements sowie Förderung einer diversitätssensiblen Lehre und Hochschulkultur.“
Transferrefertin Katrin Henshen bilanziert den Abend aus Sicht des Theorie-Praxis-Transfers wie folgt:
„Wenn Erfahrungswissen, wissenschaftliche Expertise, Expert_innentum in eigener Sache und ein Bestseller aufeinander treffen, sich gleichberechtigt austauschen und gleichermaßen voneinander profitieren, spreche ich von einem gelungenen Wissen(schaft)stransfer auf Augenhöhe. Wir freuen uns, auch so viele Menschen mit dem Thema ADHS an die katho geholt zu haben, die den Weg selten oder bisher nie gefunden haben und sind dankbar für eine ausgelassene und gleichzeitig konzentrierte Stimmung sowie die durchgängige Meinung von Organisationsteam wie divers besetzter Teilnehmendenschaft, von diesem Abend profitiert zu haben.“
Hinweis: Die Veranstaltung sollte ursprünglich am 17.01.2024 stattfinden, wurde aber wegen starken Schneefalls verschoben.
Weiterführende Informationen zu katho divers und zum Thema ADHS
FÖRDERUNG
Das Projekt katho divers wird gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der HRK-Initiative „Vielfalt an deutschen Hochschulen“.
Kontaktperson zu katho divers am Standort Aachen
Prof. Dr. Marion Gerards
Professorin für Musik und Soziale Arbeit / Leiterin des Instituts für angewandte Bildungs- und Diversitätsforschung
Aachen, Sozialwesen